Kurbjuweit, Dirk
beiden Wölfe steckten fest auf der Straße, umgeben, umzingelt
von einer dunklen zotteligen Masse. Das ist eine Falle, dachte Esther, das kann
nur eine Falle sein, und sie nahm das Gewehr aus der Halterung und hielt es
schussbereit in ihren Händen.
«Willst du
eine Ziege abknallen?», fragte Tauber.
«Vielleicht
haben sie eine Bombe in der Herde versteckt.»
Er sah sie
an, als sei sie ein Kind, das man nur nachsichtig behandeln kann.
«Eine
Terrorziege? Die bringen lieber sich selber um als ihre Ziegen.»
Drei
Halbwüchsige begleiteten die Herde. Sie gingen gleichmütig vorüber, im Tempo
ihrer Tiere, einer winkte kurz mit der Hand. Esther sah die Ziegen rot statt
braun, in Blut getränkt. Dann waren die Wölfe frei, aber Esthers Panik löste
sich nicht. In der Schlucht wurde es noch schlimmer. Kalter Schweiß lief über
ihre Haut. Sie wollte raus aus dem Wolf, raus aus der Schlucht. Tauber legte
ihr seine Hand auf den Unterarm, und sie war dankbar dafür. Sie hielten nach
der Schlucht, Esther sprang aus dem Wolf, ging zum Fluss, schöpfte Wasser mit
ihren Händen und warf es sich ins Gesicht.
Als sie
aufblickte, sah sie am anderen Ufer eine Frau, die eine blaue Burka trug und
Decken wusch. Wenn Esther das richtig erkennen konnte, hatte sie zu ihr herübergeschaut.
Wahrscheinlich war ihr eine Frau in Uniform genauso fremd wie Esther eine Frau
in einer Burka. Sie sammelte ihre Wäsche ein, rief die beiden Jungs, die bis
zur Hüfte im Wasser standen, und ging mit ihnen den Hügel hinauf, zum Hof.
Esthers Blick folgte ihr, sie hätte gerne gewusst, welches Gesicht sich hinter
der Burka verbarg, wie alt die Frau war und welches Leben sie führte. Die Frau
öffnete das Hoftor und schaute, bevor sie mit ihren Kindern verschwand, noch
einmal zu Esther. Das Tor schloss sich.
Esther
stieg ein, die Wölfe durchquerten den Fluss und schaukelten über die staubige
Piste weiter zum Lager. Die Sonne stand tief und verlieh den Bergen messerscharfe
Konturen, man sah jeden Knick, jede Falte. Sie wirkten nicht mehr gelb, sondern
hatten einen Rotstich. Mücken flogen ins Auto, surrten, stachen.
BERLIN, HERBST 2003
Esther
verließ den Bahnhof, ging über die Straße zur Spree und warf ihr Handy ins
Wasser. Dann ging sie zurück und stieg in ein Taxi. Sie hatte achtundzwanzig
Nachrichten bekommen, die nun ungelesen, ungehört versanken. Das Taxi brachte
sie nach Schöneberg zu einer kleinen Pension. Dort wohnte sie in den ersten
Wochen, zwischen verstoßenen Möbeln und verblassten Tapeten, alter Rauch hing
in ihrem Zimmer. Im Frühstücksraum saßen morgens Männer, die graue Kittel oder
blaue Latzhosen trugen. Manche hatten ihren Zollstock schon dabei. Sie teilte
sich das Bad mit ihnen, konnte aber nicht klagen. Auch Jasper hatte es nie
geschafft, alle Barthaare aus dem Waschbecken zu entfernen, und sie hatte kein
Geld für eine andere Bleibe. Sie war überstürzt aufgebrochen, hatte ihren
Freund verlassen, ihren Job nicht angetreten. Kaum war der Entschluss
gefasst, saß sie im Zug von Greifswald nach Berlin, nichts anderes dabei als
eine Reisetasche. Nach zwei Tagen suchte sie eine Telefonzelle und brauchte
eine Weile, bis sie eine gefunden hatte. Sie rief ihre Mutter im Meeresmuseum
an und sagte, dass sie sich keine Sorgen machen müsse. Dann legte sie auf. Sie
war vierundzwanzig Jahre alt.
Sie kannte
niemanden in Berlin. Sie besorgte sich ein neues Handy, erkundete eine
Laufstrecke und suchte im Internet nach einer Wohnung. Sie lief jeden Morgen
eine Dreiviertelstunde lang, danach ging sie ins Museum oder tat andere Dinge,
von denen sie dachte, dass man sie in Berlin tun müsse, abends lange ausgehen
zum Beispiel und mit Männern schlafen, deren Nachnamen man nicht wissen wollte
und die meist eine Enttäuschung waren in ihrem Unbedingt-gut-sein-Wollen, aber
auch das gehörte ja dazu. Manchmal saß sie in Cafés und las Bücher, kam sich
allerdings bald seltsam dabei vor. Du hast deine Fähigkeit, Haltlosigkeit aushalten
zu können, überschätzt, dachte sie, als sie nach hundert Seiten «Die Kartause
von Parma» an einem Vormittag im Café Manzini vollkommen deprimiert war. Sie
empfand es als ungerecht, dass sie in dem Moment, da es niemanden mehr gab,
der ihr zur Last fiel, sich selbst eine Last wurde.
Sie fragte
in der Cincinnatus Bar, die in der Nähe der Pension lag, nach einem Job und
bekam einen. Wenige Tage später hatte sie eine kleine Wohnung in Schöneberg.
Sie hörte auf, mit Männern ohne
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