Kurt Ostbahn - Kopfschuss
gigantische Party feiert. Die Vorbereitungsarbeiten laufen auch in Tres Cruces auf Hochtouren. In der Küche werden nach Omas alten Rezepten Kuchensärge, Kuchengerippe und Kuchentotenschädel gebacken und die ganze Familie dekoriert Emilios Gaststube mit bunten Scherenschnitten und Papiergirlanden, deren tödliche Motive die Vermutung nahe legen, dass man hierzulande ein ziemlich entspanntes Verhältnis zu Gevatter Tod hat.
Die Hauptattraktion ist zweifellos ein mannsgroßes Gerippe aus Pappkarton mit beweglichen Armen und Beinen, das die Kinder gebastelt und muertito (Tödchen) getauft haben und das auf Emilios Theke sitzen soll, eine Flasche Tequila in der Hand und eine Zigarre zwischen den Zähnen. Das Problem mit muertito ist nur, dass die Bastelarbeiten offenbar schlecht koordiniert waren und man erst bei der Montage der schwarzweiß bemalten Pappknochen draufkam, dass der Tod plötzlich zwei Köpfe hat. Der Schädel, den Emilios Tochter Lupita in tagelanger Arbeit angefertigt hat, besticht vor allem durch sein tadelloses dottergelbes Gebiss aus getrockneten Kaktusblüten und die leuchtenden Stanniolpapier-Augen. Das Werk ihrer Cousine wiederum kann mit den sechs Goldzähnen punkten, die einst Glieder des elastischen Armbandes einer Herrenuhr waren, und mit den in Schlangenlinien aufgeklebten Glasperlen und Spiegelsplittern auf der hohen Stirn.
Zwei wunderschöne Totenschädel für nur ein herrliches Gerippe. Der Familienrat hat das Problem seit meinem Eintreffen in ständig wechselnder Besetzung emotionsgeladen und lautstark diskutiert. In der Gaststube, in der Küche, vor und hinter dem Haus und dann wieder in der Gaststube.
Und jetzt bin ich dran. Ein unparteiischer Außenstehender soll entscheiden, welchen Schädel muertito tragen soll, verfügt Emilio und duldet keine Widerrede. Er ist der Herr im Haus. Das muss endlich einmal demonstriert werden.
Mein Problem ist, dass ich momentan ganz andere Probleme habe.
Zum Beispiel Verbrennungen mindestens zweiten Grades an meinen Unterarmen, weil ich zehn Kilometer kurzärmelig unter sengender Sonne durch die Wüste gelatscht bin, nachdem der Miet-Chevrolet im Schatten einer zirka zehn Meter hohen Yucca beschlossen hatte, das Zeitliche zu segnen. Dazu kommen hochgradige Verätzungen des Gaumens, der Speiseröhre und des Verdauungstrakts, weil ich mich gleich nach meiner Ankunft mit Heißhunger über Juanitas Tagesgericht hergemacht hatte, einer lokalen Köstlichkeit namens chilaquiles (gebratene Tortillastückchen, Hendlfleisch und Chilis in Käsesauce), die mir aber spätestens nach dem dritten hastigen Bissen die Tränen in die Augen und den Schweiß aus allen Poren trieb. „Muy picante“, lachten Wirt und Köchin. Als sich allerdings nach einem weiteren verschärften Happen akute Atemnot einstellte, hatten sie Erbarmen und leisteten mit einer Hand voll Zucker erste Hilfe.
Zu den körperlichen Problemen gesellt sich außerdem der nagende Verdacht, dass die hilfsbereiten und gastfreundlichen Menschen von Tres Cruces mit dem Besuch eines Gringos aus dem fernen Nordosten gerechnet haben und daran Hoffnungen knüpfen, die ich garantiert nicht erfüllen kann.
Weshalb sonst will Emilio mit mir dringend unter vier Augen sprechen, wenn die Totenkopf-Krise endlich ausgestanden ist?
Und warum wusste sein Schwager Ernesto, der an der so genannten Ortseinfahrt einen Autofriedhof, Abschleppdienst, Reifenservice oder Texaco-Außenposten (ohne Zapfsäule) betreibt, dass ich heute früh in Nuevo Laredo losgefahren bin, in einem blauen Chevy von Rente un auto? Keine Ahnung. Ich weiß es nicht. Und Antworten sind erst dann zu erwarten, wenn die Kunstwerke von Lupita und Rosalita auch von mir ausgiebig bewundert wurden und ich ein salomonisches Urteil gefällt habe.
„Ich würde sagen, ein muertito ohne Kopf kommt ebenso wenig in Frage wie ein muertito mit zwei Köpfen“, nähere ich mich also vorsichtig dem alles überschattenden Thema des Tages an und ernte prompt zustimmendes Kindernicken. „Da es aber zwei so wunderschöne Totenschädel gibt, sollte es meiner Meinung nach auch zwei muertitos geben, die dann gemeinsam auf Emilios Theke sitzen, miteinander Tequila trinken, sich lustige Geschichten erzählen und dabei Zigarre rauchen.“ „¡¿Dos muertitos ?!“
Die erste Aufregung ist groß. Aber meine Anregung kommt offenbar an, denn Lupita und Rosalita jagen plötzlich mit strahlenden Augen in die Küche, um Oma, Mutter und Tante von der friedlichen Beilegung
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