Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch
zurecht.
|15| Sie wurde auf dem Dorffriedhof beigesetzt, auf einem neuen Areal, das direkt ans offene Land grenzte. Ihr Grab war das letzte
in einer Reihe ordentlicher neuer Gräber.
Ihre drei großen blonden Enkeltöchter – Alice, Alexandra und Anna – warfen Rosen und eine Handvoll Erde ins Grab. Nikolai klammerte sich, von seiner Arthritis gebeugt,
fahl und mit leerem Blick in tränenlosem Schmerz am Arm meines Mannes fest. Die Töchter, Vera und Nadeshda – »Glaube« und
»Hoffnung«, meine Schwester und ich –, rüsteten sich zum Kampf um Mutters Nachlass.
Während die Trauergäste ins Haus zurückkehren, um sich zu stärken und sich mit ukrainischem Samohonka ein wenig anzuheitern,
treten meine Schwester und ich in der Küche in den Ring. Sie trägt einen schwarzen Seidenstrick-Zweiteiler aus einer eleganten
kleinen Secondhand-Boutique in Kensington. An den Schuhen hat sie kleine goldene Schnallen, an ihrer Gucci-Handtasche einen
goldenen Verschluss und um den Hals ein dünnes goldenes Kettchen. Ich stecke in irgendwelchen schwarzen Klamotten, die ich
im Oxfam-Shop gefunden habe.
Vera mustert mich kritisch von oben bis unten. »Aha – der Landfrauen-Look.«
Ich bin siebenundvierzig und Dozentin an der Universität, aber der Tonfall meiner Schwester macht mich augenblicklich wieder
zu einer vierjährigen Rotznase.
»Nichts gegen Landfrauen. Mutter war auch eine«, antwortet die Rotznase.
»Genau.« Die große Schwester zündet sich eine Zigarette an. Rauch zieht in eleganten Spiralen nach oben.
Als sie sich vorbeugt, um das Feuerzeug wieder in ihre Handtasche zu stecken, sehe ich an ihrem goldenen Kettchen ein kleines
Medaillon unter dem Revers ihrer Kostümjacke |16| hervorlugen. Es wirkt seltsam altmodisch gegen Veras sonstiges gestyltes Outfit, als ob es nicht dazugehöre. Ich starre es
an. Tränen treten mir in die Augen.
»Das ist Mutters Medaillon, das du da trägst.«
Mutters einziger aus der Ukraine geretteter Schatz, klein genug, um es im Saum eines Kleides zu verstecken. Es war ein Hochzeitsgeschenk
ihres Vaters für ihre Mutter. Innendrin lächeln sich die vergilbten Fotografien der beiden an.
Vera erwidert meinen Blick. »Hat sie mir geschenkt.« (Ich kann das nicht glauben. Mutter wusste, dass ich dieses Medaillon
liebte und es mir mehr wünschte als irgendetwas sonst. Vera muss es geklaut haben – anders lässt sich das nicht erklären.)
»Also, was wolltest du mir wegen des Testaments sagen?«
»Ich will nur, dass alles gerecht ist«, winsele ich. »Und das hier ist nicht gerecht.«
»Nadeshda, es reicht, dass du deine Kleider von Oxfam beziehst. Musst du auch noch deine Ideen von dort mitbringen?«
»Du hast dir das Medaillon einfach genommen. Du hast sie gezwungen, diese Verfügung zu unterschreiben, dass das Geld auf die
drei Enkelinnen und nicht auf die beiden Töchter aufgeteilt werden soll. Auf diese Weise bekommt ihr doppelt so viel wie wir.
Das ist habgierig.«
»Wirklich, Nadeshda, ich bin schockiert. Dass du so etwas auch nur denken kannst.« Die schön geschwungenen Augenbrauen der
großen Schwester zucken ein wenig.
»Nicht annähernd so schockiert, wie ich war, als ich es herausfand«, blökt die Rotznase.
»Du warst nicht da, Schwesterchen, oder? Du hattest doch so wichtige Dinge zu tun. Musstest die Welt retten und deine Karriere
vorantreiben – und hast die ganze Verantwortung mir überlassen. Wie immer.«
»Du hast sie in ihren letzten Tagen mit deinen Scheidungsgeschichten |17| gequält, du hast ständig darüber geredet, wie grausam dein Mann zu dir ist. Du hast an ihrem Bett Kette geraucht, während
sie dalag und starb.«
Die große Schwester klopft die Asche ihrer Zigarette ab und stöhnt theatralisch auf.
»Weißt du, Nadeshda, das Schlimme an deiner Generation ist, dass ihr immer nur über die Oberfläche des Lebens gleitet. Frieden!
Liebe! Herrschaft der Arbeiterklasse! Dieser ganze idealistische Unsinn. Du kannst dir den Luxus leisten, keine Verantwortung
zu übernehmen, weil du nie die dunklen Seiten des Lebens kennen gelernt hast.«
Warum bringt mich dieser gedehnte Oberschichtakzent meiner Schwester so auf die Palme? Weil ich weiß, dass er bloß aufgesetzt
ist. Ich erinnere mich nämlich noch gut an das schmale Bett, in dem wir beide schliefen, und an die Toilette hinten im Hof
und an das zurechtgeschnittene Zeitungspapier, mit dem wir uns den Hintern abwischen mussten. Mir kann sie
Weitere Kostenlose Bücher