Labyrinth der Spiegel
Hand in eine Aushöhlung und hole eine große, schwere Rolle heraus. Ich ziehe mich um und stehe schließlich in Hosen, einem weißen Leinenhemd und einem gemusterten Gürtel da. Ein Kurzschwert in einer Scheide, ein paar Sachen in meinen Hosentaschen. Das Versteck habe ich vor ein paar Tagen illegal angelegt, von einem Rechner in der Zentrale der transkaukasischen Eisenbahn aus. Bei den schwachen Admins, die die haben, werden sie den kleinen Hack nicht so schnell bemerken.
»Wo ist der Bach?«, frage ich.
»Rechts.«
Über das sprudelnde Wasser gebeugt betrachte ich mein Spiegelbild. Ein paarmal schlage ich mit der flachen Hand darauf, dann ziehe ich die Konturen mit dem Finger nach und lösche es damit. An seiner Stelle zeichnet sich in dem vibrierenden Spiegel nach und nach ein kräftiger, dunkelblonder
Mann ab. Das Gesicht ist so gutmütig und naiv, dass ich kotzen könnte.
»Danke«, sage ich Vika und richte mich auf. Ein Weilchen genieße ich einfach den Wald. Teufel auch, ich bin verdammt lange nicht aus der Stadt mit ihrer verpesteten Luft herausgekommen!
»Sag, edler Prinz, wartest du gar auf mich?«, fragt da jemand hinter mir. Als ich herumfahre, tritt aus den dichten Büschen ein stattlicher, mir bis an die Brust reichender Wolf heraus.
»Kann schon sein«, antworte ich und betrachte voller Faszination den Wolf. Was für ein prächtiges Tier! Er ist nicht einfach grau, sondern hat ein fast schwarzes Fell, mit einem Schuss Wolfsfarbe. An einigen Stellen ist es verfilzt, an der rechten Vorderpfote klebt eine Klette.
»Wie du mir wohl munden würdest, edler Prinz?«, sinniert der Wolf und fletscht die Zähne. Die gelben Fänge wirken wie die Zähne eines Rauchers, einer ist völlig abgebrochen. Ein ausgewachsenes, erfahrenes Tier.
»Hüte deine Zunge, so du mein Ritterschwert nicht kennenlernen willst«, improvisiere ich. »Zeig mir, dass du deines Futters würdig bist!«
Lächelnd lässt sich der Wolf nieder. »Und wie entlohnst du mich, Recke?«
»Mit dreitausend Dollar«, antworte ich. Der Wolf nickt zufrieden und reibt sich mit der Pfote über die Schnauze. »Al Kabar?«, erkundigt er sich.
»Richtig geraten.«
»Unsere Mission?«
»Diebstahl.«
»Wer ist der Auftraggeber?«
Ich zucke die Achseln. Welche Antwort erwartet er auf diese Frage? Solche Auftraggeber werfen nicht gern mit Visitenkarten um sich.
»Versuchen wir es!«, sagt der Wolf. »Du bist bereit?«
»Ja.«
»Dann steig auf!«
Sobald ich auf dem Rücken des Wolfs sitze, trottet er in leichtem Trab los. Instinktiv ducke ich mich vor den Zweigen weg, was den Wolf zu einem leisen Kichern veranlasst. Gut, der Spaß sei ihm gegönnt!
Schon nach ein paar Minuten preschen wir aus dem Wald heraus. Unter uns liegt jetzt gelber Wüstensand. Es ist heiß, verdammt heiß sogar, und Windböen zwingen mich, die Augen zusammenzukneifen. Vor mir klafft eine hundert Meter breite Schlucht, auf der anderen Seite erhebt sich eine orientalische Stadt. Minarette, Kuppeln, alles in orangefarbenen, gelben und grünen Tönen. Sieht ziemlich gut aus. Ganz in der Nähe führt eine … mhm … na, sagen wir mal, eine Brücke über die Schlucht. Ein feiner Faden, zart wie eine Saite. Das eine Ende führt zur Stadtmauer, das andere hält eine monströse, zehn Meter hohe Steinfigur in der Hand. Ihre Fratze ist einfach widerlich.
»Na, da wartet ja ein ordentliches Stück Arbeit auf uns«, bemerkt der Wolf. »Meinst du nicht, du hättest mehr für den Job verlangen sollen, Iwan Zarewitsch?«
»Ist wahrscheinlich nur halb so wild«, murmele ich, während ich die Statue mustere. »Außerdem hat man mir gesagt, dass es hier eine Brücke gibt.«
»Was willst du eigentlich klauen?«
»Ein paar güldene Äpfelchen.«
»Deshalb also die Maskerade als Märchenprinz.« Abermals kichert der Wolf. »Und womit sind diese Äpfelchen gefüllt?«
»Keine Ahnung.« Ich springe vom Rücken des Wolfes, stelle mich neben ihn und halte ihn mit der Hand am Fell fest. »Du, ich bin gleich wieder da, ich will nur schnell eine Limo trinken.«
»Tu dir keinen Zwang an«, erwidert der Wolf und sieht sich um.
Ich schließe die Augen.
Tiefe, Tiefe, ich bin nicht dein … Tiefe, Tiefe, gib mich frei …
Ich zuckte zusammen und stand auf. Auf den winzigen Displays erkannte ich die Wüste, die Schlucht, die Statue und im Hintergrund die Stadt. Alles war recht nett designt. Al Kabar hatte gute Designer.
Der VR-Helm, ein aufgemotztes Serienprodukt von Sony, war schwer.
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