Fahrt zur Hölle
EINS
So stellt man sich den Sommer vor. Ein makelloser blauer Himmel wölbte sich über der Förde, die Sonne trieb das Thermometer auf angenehme fünfundzwanzig Grad, dank der Speicherwirkung der Ostsee blieb es auch in den Abendstunden angenehm warm, und der sanfte Seewind streichelte die Haut. Die würzige Seeluft und ein Hauch Großstadt, der aber schnell verflog, wenn man sich zur Kiellinie an der Förde begab und akzeptierte, dass sich dort offenbar alle Kieler und die Besucher der Landeshauptstadt zum Stelldichein verabredet hatten, ließen – auch ohne dass man einen Blick in den Kalender werfen musste – hochsommerliche Gefühle entstehen. Die Bänke, die zum Verweilen einluden, waren umlagert, in der Außengastronomie waren alle Plätze besetzt, und selbst auf den Grünflächen vor dem Landtag und den Ministerien, die sich wie an einer Perlenkette aufgereiht hier entlangzogen, saßen die Menschen und freuten sich über den »Sommer in Kiel«.
Dr. Lüder Lüders war gestern einer von ihnen gewesen. Der Kriminalrat von der Abteilung 3 des Landeskriminalamts, dem polizeilichen Staatsschutz, hatte den Abend mit Teilen seiner Patchworkfamilie an der Förde zugebracht. Thorolf, der ältere Sohn seiner Partnerin Margit, war zu Beginn der Sommerferien mit Freunden nach Südeuropa aufgebrochen. Seine Mutter hatte nur widerwillig zugestimmt. Doch der Siebzehnjährige hatte sich nicht davon abbringen lassen. Seine zwei Jahre jüngere Schwester Viveka befand sich seit drei Wochen zu einem Sprachurlaub in England. Zumindest sie meldete sich sporadisch über Skype, während Thorolf verschollen schien. Jonas, Lüders Sohn aus dessen geschiedener Ehe, hatte nur missmutig eingewilligt, zum Eisessen mit an die abendliche Förde zu kommen, um anschließend beim »Lieblingsitaliener« der Familie seinen Vorstellungen von Kulinarik zu frönen. Nur Erstklässlerin Sinje, die gemeinsame Tochter, war dem Vorschlag begeistert gefolgt.
Jonas hatte den Abend genutzt, um seinen Unmut darüber auszulassen, dass er in der kommenden Woche mit »den Alten« und »der blöden Schwester« in ein Ferienhaus nach Mittelschweden fahren müsse. Viel lieber würde er mit ein paar Kumpels zelten fahren, hatte Jonas verkündet und war mit Sinje in einen heftigen Streit geraten, als diese erklärte, sie würde ihn begleiten wollen.
»Erhole dich von der Familie«, hatte ihm Margit Lüder am frühen Morgen mit auf den Weg gegeben, als er ins Polizeizentrum Eichhof gefahren war, das Areal in Kiels Westen, wo neben anderen Dienststellen auch das Landeskriminalamt residierte.
Lüder war sich nicht sicher, ob es ihn mit Begeisterung erfüllte, dass er in jüngster Zeit überwiegend mit Tätigkeiten befasst war, die ihn an den Schreibtisch banden. Er las Akten und Protokolle, fertigte neue Akten, Notizen und Expertisen an, gab Stellungnahmen ab, die in endlosen Dienstbesprechungen diskutiert wurden, führte Auseinandersetzungen mit seinem Abteilungsleiter über die Auslegung mancher Vorgänge und dachte zwischendurch an Margit, die sich erfreut darüber zeigte, dass er, der promovierte Jurist, einer Beschäftigung im Innendienst nachging.
Lüder hatte sich im Geschäftszimmer der Abteilung einen Becher Kaffee besorgt, dabei mit der Mitarbeiterin Edith Beyer ein paar Worte gewechselt und registriert, dass die Frau ihre privaten Sorgen und Probleme offenbar überwunden hatte. Zwischendurch hatte er auf die geschlossene Tür zum Büro des Kriminaldirektors gezeigt.
»Und?«
Edith Beyer wies mit dem gestreckten Daumen nach unten.
»Wie immer«, hatte Lüder festgestellt. Er war nicht der Einzige, der zwischenmenschliche Probleme mit Dr. Starke hatte.
»Glauben Sie, das ändert sich noch einmal?«, fragte Edith Beyer.
Lüder nahm einen Schluck Kaffee, spitzte die Lippen, sog hörbar Luft ein, verdrehte die Augen und sagte: »Mann, ist der heiß.«
»Sie verbrennen sich den Mund am Kaffee. Er da«, sie zeigte auf die Zimmerwand, »braucht dazu kein Heißgetränk.«
»Ich habe meine ganze Hoffnung auf die neue Landesregierung gesetzt«, erwiderte Lüder. »Aber die wollten den Scheiß-Starke nicht als Innenminister. Nicht einmal als Staatssekretär.«
Mit »Scheiß-Starke« benutzte Lüder eine Formulierung, die er vom Husumer Oberkommissar Große Jäger übernommen hatte.
Er wünschte der jungen Frau einen schönen Tag und kehrte in sein Büro zurück. Mit spitzen Fingern blätterte er das Papier in der Akte um, stützte seinen Kopf in
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