Laessliche Todsuenden
aufsuchen, aber das war lange her. Es blieb das einzige Mal.
Daran dachte Martine, als sie am nächsten Tag im Weinberg lagen, sie und Fiona, und es irgendwie dazu gekommen war, dass sie mit Nase und Wange Fionas nackten Oberarm berührte, Fiona aber nichts dagegen tat. Mein Bruder hat einmal den Swoboda in die Hand gebissen, flüsterte Martine, und da stießen auch ihre Lippen an Fionas Arm. Fiona lag auf dem Rücken und starrte in den Himmel. Ich weiß, sagte sie, ich bin sicher, er hat es verdient.
Danach war Stille.
Martine wartete, mit klopfendem Herzen und geschlossenen Augen, sie wusste gar nicht, auf was, aber da nichts sonst geschah und alles so klar und schön schien, richtete sie sich auf, stützte sich auf die Ellbogen, bemerkte noch flüchtig, dass die Wolken vom Himmel gerade auch durch Fionas Augen zogen, und küsste sie. Sie küsste sie kurz, mit fest geschlossenem Mund, aber Fiona fuhr trotzdem so heftig auf, dass ihre Köpfe aneinander schlugen und Martine sich in die Lippe biss, was am Ende vielleicht das Peinlichste war. Fiona lief ein paar Schritte weg. Martine rollte auf den Rücken, schloss die Augen und schmeckte Blut. Sie hörte Fiona irgendwo in der Nähe pinkeln, so ruhig war es auf dem italienischen Weinberg. Martine dachte darüber nach, ob Fiona wohl zum Pinkeln bergab gegangen sei. Ob sie selbst an so etwas gedacht hätte. Ob, wenn Fiona bergauf gegangen sein sollte, das als Strafe anzusehen sei für ihre Anmaßung. Sie wusste nicht, wie sie die Augen jemals wieder öffnen sollte, aber sie hoffte, dass es sich irgendwie ergeben würde. Nach einer Weile hörte sie Fiona wiederkommen, sie stand da, sah vermutlich auf sie herunter und fragte: Fahren wir?
Als sie endlich einen Supermarkt fanden, der noch offen war, war Martine beinahe wieder zum Baby geworden. Sie konnte schon laufen, das immerhin, aber sonst hatte sie alles vergessen und war vollkommen abhängig. Mit einem Mal schämte sie sich, ihr Gemisch aus Französisch und Italienisch zu reden, mit dem sie bisher so gut durchgekommen war, und verbarg sich hinter Fiona. Sie folgte ihr benommen durch den Supermarkt, sie zuckte nur mit den Schultern und nickte, als Fiona erst einen kleinen Camembert, dann in Plastik verschweißte Mortadellascheiben vor sie hinhielt und ab dann nicht mehr fragte. Sie blieb vor etwas stehen, das sie unbedingt haben wollte, und hoffte, dass Fiona verstehen würde. Als Kind, bei ihrem ersten Besuch in London, war es ein roter Bus gewesen, drinnen saßen winzige Menschen, die man damals natürlich nicht herausnehmen konnte, so weit war die Spielzeugindustrie noch nicht. Sie blieb jeden Tag vor dem Souvenirstand stehen und drehte den Bus in den Händen, aber weder ihre Mutter noch ihr Vater hatten es bemerkt. Am letzten Tag hatte ihr Bruder einen Queen’s-Guard-Nussknacker gefordert, ein Modell der Tower Bridge und einen Satz Fußballwimpel, dann wollte er noch eine Schlossgespenstmaske. Ihre Mutter hatte ihn unbescheiden gescholten und verlangt, dass er sich entscheide, die Fußballwimpel auf alle Fälle, aber nur eins von den anderen. Ihr Bruder hatte zu toben begonnen und die Fußballwimpel auf den Boden geschmissen, ihr Vater stöhnte und entschuldigte sich, ihr Bruder bekam dann die Maske und den Nussknacker. Martine hatte ein genaues Empfinden für die Möglichkeiten, die ihr blieben, und akzeptierte unter kindischem Gekicher die Halskette mit dem Swarovski-Anhänger, die ihre Mutter vorgeschlagen hatte. Den Bus hatte sie ganz schnell ins Regal zurückgestellt, denn sie war ja schon ein großes, vernünftiges Mädchen. Und genau wie damals stand sie nun vor den Karamellpuddings, die sie liebte und die es daheim nicht gab. Man zog die Folie ab, drehte den Becher um, stach mit der Messerspitze ein Loch in den Boden, dann kam der Pudding mit einem leisen Schmatzen heraus, und die Karamellsoße floss oben drüber. Was ist, fragte Fiona, die zurückgekommen war. Ich hab geglaubt, die gibt’s nur in Frankreich, sagte Martine und deutete auf das Kühlregal. Fiona starrte auf die Puddings, die es nur in Achter- und Zwölferpackungen gab und die sich unter ihrem Blick zu Türmen der Dekadenz und Maßlosigkeit verwandelten. Sie bückte sich und nahm aus dem Regal daneben ein Päckchen mit geriebenem Parmesan. Ich wär dann so weit, sagte sie und drehte sich Richtung Kasse.
Fiona hatte gar nicht zum Strand gehen wollen, schließlich gab es einiges zu verbergen. Ins Wasser konnte sie deshalb auch nicht.
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