Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Laessliche Todsuenden

Laessliche Todsuenden

Titel: Laessliche Todsuenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Menasse
Vom Netzwerk:
vor der Abreise. Du musst entschuldigen, wenn ich manchmal ein bisschen …, und Martine schien sofort zu verstehen, was sie brauchte.
    So war Martine, damals: Der kurze Blick auf ein bisschen Mull und Leukoplast in Fionas Leistengegend beendete ihr Nachdenken, anstatt es in Gang zu setzen, wie Fiona es sich gewünscht hätte. Es war ihr egal, was genau da geschehen war, denn tief in ihr drin murmelte ein Chor, der klang wie die Stimmen ihrer Mutter und deren Freundinnen und deren Mütter und Freundinnen und Generationen von Müttern und Freundinnen zuvor, dieser Chor murmelte Frauengeschichte. Nach Frauengeschichten fragte man nicht, darüber wusste man Bescheid. Martine verband damit zwar ein paar vage Begriffe, aber sie verstand eben doch gar nichts von Abtreibungen und Fehlgeburten, von Zysten, Geschwulsten, geplatzten Eileitern und den Verheerungen, die sie in den Seelen der Frauen anrichten, weshalb die Frauen den glatten Code von den Frauengeschichten erfunden haben. Für Unbeteiligte, also für Männer und junge Mädchen, soll er unwichtig klingen, nach etwas langweilig Alltäglichem, das höchstens ein wenig unappetitlich ist. Deshalb der fast romantische Namen. Aber für die Eingeweihten und die Betroffenen bedeutet es immer schwarzes Drama.
    Für Martine dagegen bedeutete es beinahe Glück, das Stückchen Mull, das sie sah, eine handliche Erklärung für alles, was sie nicht verstanden hatte. Dass einige der Rätsel an den Anfang, bis in den Frühling zurückreichten, kam ihr dabei nicht in den Sinn. Ein kleines, selbstkritisches Geräusch beim Umschalten noch – wie unaufmerksam, wie selbstbezogen! –, und Martine war verwandelt, beseelt von ihrer neuen Aufgabe als Trösterin. Ach, das tut mir ja so leid, sagte sie unbeholfen und strich Fiona über den Oberarm, aber jetzt ist es vorbei, und bald hast du es ganz vergessen.
    Nachdem sie Fiona zur Liege zurückgeleitet, ihr die Rückenlehne hochgeklappt, das Handtuch ausgebreitet und sie, mit Blick zum Meer, daraufgesetzt hatte wie eine Patientin in der Lungenheilanstalt, wuchs sich ihre Erleichterung zu zärtlichem Ungestüm aus. Und deshalb packte sie Fionas Rucksack, zog das Portemonnaie heraus, sie selber hatte ja keines, lachte sie an und versprach: Überraschung. Dann lief sie mit großen Sprüngen über den Sand davon, auf braunen, dünnen Beinen.
    Vierundzwanzig Stunden später, als sie im Zug zurück nach Hause saß, auf den Knien die alten Kekspackungen, draußen das regenverhangene Mürztal, da sah sie sich immer wieder über den Strand rennen, und die Scham brannte überall. Hin war sie gerannt, zurück eher gehüpft mit dem Portemonnaie und den beiden Eisstanitzel in den Händen, je drei aufeinandergetürmte Kugeln, kunterbunt wie ihre Laune, obenauf noch Schlagobers und Zuckerstreusel, und zwischen den Zähnen hatte sie tatsächlich eine Blume. Die hatte ihr der Eisverkäufer geschenkt, denn anders als sonst, da sie Aufmerksamkeiten von fremden Männern immer brüsk zurückwies, spielte sie diesmal mit, für die Blume hatte sie Verwendung, und da war das neckische Wort für den Eismann nur Mittel zum Zweck.
    Fiona freute sich über das Eis, so schien es, sie legte Martine sogar kurz die Hand auf den Arm, und über die Blume zwischen ihren Zähnen hatte sie durchaus gelacht: Wie Jack Lemmon in dem Billy-Wilder-Film, oder war es der andere?
    Ich bin ein Mann, ruft ganz am Ende der als Frau verkleidete Jack Lemmon dem närrisch verliebten Öl-Millionär zu, der ihn unbedingt heiraten will – nobody is perfect, kriegt er zur Antwort. Aber diesen Film und seinen Schlussdialog sah Martine erst viele Jahre später, spätnachts in einer fernen Großstadt, als ihr Baby nicht schlafen wollte und sie es im Zimmer herumtrug, während das Fernsehen leise lief. Und da fand sie den Zusammenhang auf einmal komisch, sehr spät, aber doch.
    An diesem Nachmittag und Abend in Italien jedenfalls hatte sie ihre großen Stunden, Martine, als sie zu verstehen glaubte, dass sie hier als Freundin gefragt war und nicht als dumme Schülerin. Fiona brauchte Schonung, sie brauchte Unterhaltung und Ablenkung, und Martine war fest entschlossen, ihr nun alles zu geben und abzunehmen, je nachdem. Schon zwei Minuten nach dem Blick auf die Mullverbände, als sie zum Eis gesprungen war, analysierte sie im Schnelldurchlauf das Kräfteverhältnis ihrer Freundschaft, wie es bisher gewesen war, wie Fiona alles entschieden, alle Vorschläge gemacht hatte, wie sie selbst immer nur

Weitere Kostenlose Bücher