Lamarchos
unteren Stockwerken gab es keine Fenster, nur eine schwere, eisengefaßte Tür. Wie die Stadttore, so standen auch diese Türen der unsteten Brise offen, die die heiße, feuchte Spätnachmittagsluft bewegte. Als die Pferde daran vorbeitrappelten, erhaschte Aleytys kurze Blicke auf grüne und liebliche Innenhöfe, manchmal sogar auf einen Springbrunnen. Leute schlenderten in beide Richtungen, schwatzten müßig, und sogar jene mit bestimmten Zielen oder Aufträgen waren ohne Eile und bereit stehenzubleiben, die Neuankömmlinge anzustarren. Bis Aleytys auf den Marktplatz fuhr, folgten zahlreiche Neugierige, die Blicke auf die beiden Wohnwagen geheftet.
Das Schwarzweißmuster teilte sich in zwei Hälften und bildete eine Girlande um ein hohes, schlankes Minarett, das sich nahezu hundert Meter hoch erhob, bevor es sich zu dem Tulpenblüten-Kapitell ausformte; es erinnerte sie an die karmesinroten Türme, die sie während der vergangenen Tage gelegentlich gesehen hatte. Jetzt, aus der Nähe, konnte sie sehen, daß die Farbe nicht durchgehend war, sondern sich aus Tausenden von in einen weißen Untergrund eingelassenen, quadratischen, karmesinroten Ziegeln zusammensetzte. Wie eine exotische Blume erhob sich der Turm zwischen den nüchternen Gebäuden mit den schlichten Fronten und über dem Schwarzweiß-Pflaster. Eine zierliche Treppe wand sich um das Minarett herum, der ebenso zierlichen Turmspitze entgegen; dort gab es eine Beobachtungsplattform. Direkt unterhalb klaffte ein ovales Loch. Eine große, bronzene Glocke hing massiv bewegungslos in dieser Öffnung.
Aus kleinen Läden mit offenen Fronten und Eßstuben, die die Luft mit dem Geruch von Fleisch und frischgebackenem Brot sowie der hiesigen Version von Tee erfüllten, kamen Leute heraus, um der Ankunft der Fremden zuzusehen. Niemand sprach Aleytys oder die anderen direkt an. Sie wichen den Wagen aus, stellten Vermutungen an, warteten jedoch darauf, daß sie den ersten Schritt tat, um anzuzeigen, wer sie war und was sie wollte.
Aleytys hielt die Pferde am Minarett an. Sie wickelte die Zügelenden um den Pflock und wandte sich Stavver zu. „Zeit, die Glocke zu läuten. Bist du bereit?“
Er nickte, schwang sich vom Sitz. Er zog seinen Lendenschurz zurecht und schritt zielstrebig zum Turm hinüber; dort machte er das Glockenseil los und zerrte heftig daran.
Der tiefe, melodische Ton zitterte über die verwunderten Gesichter der Stadtbewohner. Er zählte bis fünf, dann zog er wieder an dem Seil. Drei Schläge … Die Kauna wurden herbeigerufen. Er wickelte das Seil um den Pflock und kehrte zum Wagen zurück.
Der Platz verstummte zu einer dumpfen Stille. Aleytys saß bewußt völlig regungslos, ihr Gesicht eine ruhige, lächelnde Maske, die eine Zuversicht ausstrahlte, die sie nicht wirklich empfand. Stavver lümmelte sich gegen die Sitzlehne, ein Grinsen auf seinem Gesicht, die Daumen hinter den alten, abgenutzten Ledergürtel gehakt.
Die schweigend starrende Menge öffnete sich einer Prozession von sechs Männern und einer Frau; alle blickten sie finster drein, alle Gesichter wichtigtuerisch humorlos. Jeder trug den allgegenwärtigen Batiklendenschurz um den Wohlstandsbauch gewickelt, zusätzlich jedoch kurze Federumhänge, die in einem goldorangenen Glanz schimmerten und mit Goldketten um ihre plumpen Schultern geschlossen waren. Jeder trug einen Stab in Form eines Kanupaddels, der Griff war lang, die obere Breitfläche mit komplizierten Schnitzereien versehen.
Der Anführer der Prozession blieb neben ihr stehen. „Warum ruft ihr die Kauna zusammen, Fremde?“
Aleytys sah ihn eine Minute lang schweigend an und bemerkte, wie ihm unter ihrem finsteren Blick leicht unbehaglich wurde. Sie stand so, daß er seinen Kopf in den Nacken lehnen mußte, um höher als nur bis zu ihren Knien sehen zu können. „Olelo.“
Der Sprecher schob sich durch die Planen, balancierte einen Moment lang auf der Sitzlehne, krabbelte dann ihren Arm hinauf und blieb schließlich aufrecht auf ihrer Schulter stehen; ein Blick aus strahlenden schwarzen Augen huschte über die verblüfften Gesichter der Ältesten.
„Ich bin Lahela Gikena.“
Überraschtes Murmeln eilte über den Marktplatz. Die Zuschauer drängten näher heran.
„Ich bin gekommen, um Wahi-Po der Ungerechtigkeit zu bezichtigen, einen Unschuldigen verdammt zu haben.“
Der Erstmann der Kauna neigte höflich den Kopf, dann richtete er den Blick seiner klugen, rotbraunen Augen auf sie, voll Unbehagen darüber, aus
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