Land der Erinnerung
seinen fixen Ideen loszureißen, ihn in Grund und Boden zu lachen, waren wir i verloren. Trinken brachte ihn nicht auf andere Gedanken. Sogar wenn wir ihn in einen Nachtclub schleppten, war er imstande, weiter zu analysieren, zu sezieren, zu konstruieren. Manchmal stieß ich auf dem Heimweg von einem Abend - oder es konnte auch auf dem Heimweg vom Mittagessen sein - in einem Café auf ihn, wie er vor einem unschuldigen Glas Bier saß. Es war nie möglich, schnell von Edgar loszukommen, wie wichtig der Grund auch sein mochte. Wenn man darauf bestand, ihn rasch zu verlassen, begleitete er einen heim. Er schien immer ein Buch versteckt zu haben, mit dem er einem genau dann kam, wenn man schon unruhig wurde. Es war immer ein neues Buch, eines, das er soeben zu Ende gelesen hatte, und es war von größter Bedeutung für ihn, daß seine Freunde daran teilhatten. Manchmal waren es, um gerecht zu sein, gute Bücher, anregende zumindest. Das Problem war nur, daß er einem immer schon die besten Partien vorgelesen hatte, bevor er einem ein Buch überließ - und zwar mit ins einzelne gehenden, haarspalterischen Exegesen, vorgebracht mit leidenschaftlichem Ernst und natürlich alles ex tempore. Oft sagte ich dann: «Nein, nein, ich weigere mich, es zu lesen! Es interessiert mich leider nicht im Geringsten, Edgar.» Solche Ausbrüche kränkten ihn nie, nicht Edgar. Er wartete dann, bis man sich beruhigt hatte, und fing durchtrieben und hinterlistig noch einmal von vorne an. Wenn er endlich jeden Widerstand gebrochen hatte, und man sich widerstandslos in sein Schicksal ergab, steckte er es einem sanft in die Tasche oder unter den Arm. Wenn man es beim nächsten Wiedersehen noch nicht angeschaut hatte, nahm er es und begann noch einmal laut daraus vorzulesen. «Das ist bestimmt nicht der richtige Weg, uns dazu zu verlocken», wandten wir ein. «Du bist ein verdammter Proselytenmacher, weißt du das?» Edgar lächelte mild. «Aber im Ernst», begann er wieder, «wenn ihr euch einmal eingelesen habt, werdet ihr sehen ...» - «Ich sehe es dem Einband an, daß es nichts taugt», sagte Fred. «Das Buch stinkt.» Aber Edgar blieb in solchen Fällen absolut unerschütterlich. Er hörte zu, wie man sich zwanzig Minuten lang ereiferte und begann dann in aller Ruhe, einen von neuem zu bearbeiten, als habe man überhaupt nichts gesagt. Am Ende blieb natürlich Edgar Sieger. Am Ende waren wir gezwungen, seine Sprache zu übernehmen und sie in unsere einzubauen. Ein Fremder hätte unsere Diskussionen vollkommen unverständlich gefunden: wir hatten eine Code-Sprache entwickelt, die beinahe so verfeinert wie die des Physikers war.
Ich lache jetzt noch, wenn ich vom Villa-Seurat-Kult lese! Es waren natürlich die Engländer mit ihrer Humorlosigkeit, die dieses Gerede von einem Kult oder einer Gruppe anfingen. Es ist so seltsam, daß die Engländer, nur durch den Kanal vom Kontinent getrennt, Frankreich wie ein fernes Land erscheinen lassen. Die damals jungen englischen Schriftsteller, die gelegentlich eine Reise nach dem Kontinent unternahmen, kamen mir völlig unwirklich vor. Manchmal bat ich Durrell, mir zu übersetzen, was sie gesagt hatten, so kompliziert, so fremdländisch war ihre Redeweise, Ich habe nie begriffen, wonach sie eigentlich suchten. Sie machten mir den Eindruck von kurzsichtigen Leuten, denen man ihre Brille weggenommen hatte. Durrell und Fred konnten ihr Getue vollendet nachahmen. Oft, wenn sie gegangen waren, setzten wir eine Vorstellung in Szene, in der wir vorgaben, zu stottern und zu stammeln, zu lispeln, reichlich zu schwitzen, mit kleinen Schrittchen zu trippeln, lächerliche Fragen zu stellen, uns tief in abstruse Probleme zu verwickeln und so weiter. Während solcher Sitzungen lachte sogar Edgar, bis ihm die Tränen über die Wangen rollten,
Wenn es in der Villa Seurat tatsächlich eine Gruppe gab, befand sie sich gegenüber, im Hause einer ausländischen Dame, die einmal die Woche eine Soiree gab. Dort konnte man alle intellektuellen Langweiler von Paris kennenlernen, Menschen aller Arten und Gattungen. Dann und wann, wenn wir Hunger hatten, gingen wir hin. Es gab immer übergenug zu essen und zu trinken, und die belegten Brötchen waren äußerst delikat. Manchmal wurde auch getanzt. Die ‹großen Geister› steckten dann die Köpfe zusammen, und die anderen ergingen sich. Der Gastgeberin schien es gleichgültig zu sein, was geschah. Alles, was sie verlangte, war, daß man sich amüsierte. Ihre Vorstellung von
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