Sturmwelten 01
PROLOG
Ein einzelner Schrei, lang gezogen und so von Einsamkeit erfüllt, dass die Frau unwillkürlich erzitterte, erfüllte die laue Nacht. Für einen Moment verstummte das Konzert der Vögel, erst
als der Schrei verklang, ertönte wieder ihr ewiges Lied vom Streben gegen das Vergehen.
Sie konnte nur hoffen, dass keine neugierigen Augen ihr Zaudern bemerkt hatten, und so schritt sie selbstbewusst und forsch weiter, vorbei an umgestürzten Säulen, kopflosen Statuen, deren Farben längst verblichen waren, und überwachsenen Brunnen, die schon lange kein Wasser mehr führten. Einst mochte dies ein prächtiger Garten gewesen sein, dessen Schönheit die Menschen innehalten ließ, doch dieser vergangene Glanz ließ sich nur noch erahnen. Jetzt war die Anlage wenig mehr als ein Mahnmal der Vergänglichkeit. Irgendwer hatte einige der Büsten wieder aufgestellt, dort, wo sie nicht von Pflanzen überwuchert wurden. Bleiche Imperatoren, Kaiser, deren Wort einst ganze Völker bewegt hatte, starrten mit leeren Marmoraugen auf die Besucherin.
Sie jedoch beachtete ihre Umgebung nicht, sondern folgte dem einzigen Weg, dessen Steinpflaster noch erhalten war, zum Zentrum der Anlage. Das Mausoleum, einst ein Gebäude von filigraner Schönheit, war halb eingestürzt, seine verzierten Bögen unter dem eigenen Gewicht zerborsten, als die Magie aus ihnen schwand.
Die Frau folgte nun unbeirrt dem Pfad, schritt über einige Trümmer hinweg und durch den Türsturz und trat hinter den Sarkophag, dessen einst lebensechtes Abbild der Toten nun unter zentnerschweren Blöcken begraben war.
Eine Treppe führte in die Dunkelheit hinab. Einen Moment lang sammelte die Frau sich, öffnete die Pforte in ihrer Seele, konzentrierte sich auf die machtvollen Energien um sich herum. Die Veränderung war gering; immer noch war es dunkel, doch die Schatten boten ihren Augen nun keinen Widerstand mehr. Sicheren Schrittes stieg sie hinab und erreichte bald das Portal aus schwarzem Eisen. Ihre Finger glitten über die Runen, entließen winzige Spuren Vigoris in der vorgesehenen Reihenfolge, bis die schwere Tür sich öffnete, mit einem Geräusch, das wie eine flüsternde Totenklage klang.
Der Gang hinter dem Portal stand in absolutem Gegensatz zu dem Verfall über ihr. Magische Lichter, genährt von der Energie der Vigoris, spendeten ein warmes, beinahe anheimelndes Licht. Uralte Mosaike zeigten die wechselvolle Geschichte des Imperiums, den Aufstieg der Nigromantenkaiser, die Eroberung der gesamten bekannten Welt.
Doch auch für diese Wunder hatte die Frau keinen Blick übrig. Sie schritt über kunstvoll verzierte Bodenplatten, ignorierte die schwebenden Lichter und den angenehmen Geruch nach frischem Flieder. Ihre Stiefel hallten auf dem Steinboden, als sie sicher ihren Weg fand, an Abzweigungen vorbei, über Kreuzungen hinweg, Treppe um Treppe tiefer stieg. Sie sah schon lange nicht mehr die Schönheit und Mysterien dieses Ortes, die andere ihres Atems beraubt hätten.
Schließlich öffnete sich vor ihr eine Halle, deren Wände, Boden und Decke mit Lichtern bedeckt waren, die hell wie die Sonne strahlten. Ruhig ging sie weiter, bis sich in dem Lichtermeer vor ihr eine dunkle Pforte öffnete.
Der Raum war klein und seine Wände kahl. Nach der unbegreiflichen Pracht der großen Kaverne wirkte er geradezu grotesk natürlich. Den größten Teil des Bodens nahm ein Becken ein, das mit brackigem, stinkendem Wasser gefüllt war. Inmitten des Beckens trieb eine Gestalt, deren Anblick selbst die Frau erstaunte, deren Augen schon so viel Absonderliches erblickt hatten. Ein dünner, geschlechtsloser Körper, überzogen mit einer weißen, durchscheinenden Haut, unter der man blau die Venen sehen konnte, lag halb versunken im Wasser. Langes, weißes Haar trieb träge in dem Bassin, und das Gesicht des Wesens war gerade so menschenähnlich, dass es dadurch umso grauenhafter wirkte. Die Haut der Lider war durchscheinend, sodass die dunklen Augäpfel, die ruhelos umherzuckten, darunter zu sehen waren, obwohl die Augen geschlossen waren.
Es wehte ein leichter Luftzug, der durch ein schmales Loch in der Decke hinabzog und kühl über die Haut der Frau strich. Ihr Frösteln war indes nicht dem Hauch geschuldet, sondern dem verabscheuungswürdigen und bemitleidenswerten Wesen vor ihr, das einst ein Mensch gewesen sein mochte, jetzt jedoch nur noch ein namenloses Geschöpf war.
Unvermittelt öffnete es die Augen, die durch Fels und Stein hindurchblickten und nichts
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