Land der Erinnerung
unglaublicher Harmonie und Logik vermischte.
Zu meinem Erstaunen brachte mir die Arbeit eine Ermutigung des Herausgebers, Francis Hackett, ein. Es war ein kurzer, herzlieber Brief, der mich in zehn Jahren niederdrückenden Versagens aufrechthielt. . . Und jetzt bin ich in Frankreich und lese das Buch eines Mannes, dessen dichterische Begabung ich immer bewundern werde, und die Beschreibung seines Besuchs im Thèâtre des Deux-Masques scheint jener ersten Arbeit, die ich zur Veröffentlichung einreichte, verblüffend ähnlich. Die von Breton ist natürlich unendlich viel besser. Doch was wäre wohl aus ‹Nadja› geworden, so frage ich mich, wenn Breton sie einem amerikanischen Verleger hätte vorlegen müssen?
Landschaft. Innere und äußere Landschaft. Ich frage mich oft, was mich nach Frankreich zog und mir ermöglichte, die innere der äußeren anzugleichen. In Amerika gab es nur eine Landschaft, wenn man das so nennen konnte, die tief in meinem Innern wohnt: den, 14. Bezirk in Brooklyn, wo ich aufwuchs. Es gab aber kein ländliches Gebiet, das zum 14.
Bezirk gehört, der damals meine ganze Welt war. Was zog mich so unwiderstehlich zu den französischen Provinzen hin?
Was fand ich dort, das meinen Träumen entsprach? Archai-sche Erinnerungen? Vielleicht. Erinnerungen aus Kinderbü-
chern? Ich entsinne mich nicht, als Kind je etwas über Frankreich gelesen zu haben. Meine erste Erinnerung an etwas Französisches ist ‹Die tödlichen Wünsche›, das mir mein pol-nischer Freund Stanley Borowski lieh, und das mir mein Vater aus den Händen riß, da alles, was ein Franzose, besonders aber Balzac, schrieb, unmoralisch war. Damals war ich sechzehn.
Frankreich begann erst etwa zehn Jahre später in mein Be-wußtsein zu dringen, als ich mit einem Musiker aus Blue E-arth, Minnesota, Freundschaft schloß. Ich erinnere mich, daß er mir einen handgeschriebenen Folianten gab, der seine eigene Übersetzung eines Buches mit dem Titel ‹Batouala› ent-54
hielt.
Nein, ich kann mir mit dem besten Willen keine Landschaft ins Gedächtnis rufen, die den Wunsch, Frankreich zu durchwandern, erzeugt haben könnte. Aber als ich ankam, fühlte ich mich augenblicklich zu Hause. Das erste Wort der Sprache, das sich mir einprägte, war ironischerweise défense .
Überall stand es aufgemalt - an den Türen und Fenstern des Eisenbahnzuges, an Hausmauern, ja sogar auf dem Trottoir.
«Défense de . . .» Das nächste, dessen ich mich erinnere, weil es, übersetzt, einen Schock auf mich ausübte, sind die Worte, die in jedem französischen Eisenbahnzug zu finden sind:
«Diese Sitzplätze sind für Kriegsverletzte reserviert.» Plötzlich dämmerte mir, was (für den Europäer) Krieg bedeutet. Für uns war er ein Abenteuer, sozusagen. Etwas, das man mit der lin-ken Hand tat. Doch Frankreich war ausgeblutet. Nie werde ich jenen Zug aus Le Havre vergessen, sowenig wie ich je den Anblick Marseilles während der Verdunklung vergessen werde, als ich zum letztenmal dort vorbeikam.
Während der letzten Jahre, die meiner Ankunft in
Frankreich vorangingen - Jahre einer fieberhaften Erwartung, vermischt mit Angst bei dem Gedanken, ich könnte für immer in New York festgehalten werden -, stellte ich meinen Freunden, die dort gewesen waren, die idiotischsten Fragen. Ob die Straßen immer noch gepflastert seien? Ob sich jedermann schwarz kleide? Ob sie mir Le Rat Mort beschreiben könnten?
Ob es im Herzen von Paris eine Statue Rabelais' gebe? Wie sagt man: «Ich habe mich verlaufen»? Und so weiter. Endlose Fragen, die natürlich endlose Lachsalven auslösten. Wenn ich meine Eltern besuchte, nahm ich ein Französischbuch für An-fänger mit, gab es meinem Vater und bat: «Lies mir ein paar Fragen auf englisch vor und sieh zu, ob ich sie auf französisch beantworten kann.» Und wenn ich dann antwortete: «Oui, monsieur, je suis très content» , lächelte mein Vater und meinte: «Jeh, sogar ich kann das verstehen; es ist genau wie Englisch, nur andere Wörter gebrauchen sie.» Worauf wir uns die Hände schüttelten und sagten: «Comment allez-vous aujourd'-
hui?» Wir brachten diese kurzen Sätzchen perfekt über die Zunge; so glaubte ich damals jedenfalls. In dem Augenblick aber, als ich französischen Boden betrat, wurde ich von Panik 55
erfaßt. Die einfachsten Fragen verwirrten mich. Alles, was ich als Antwort hervorbringen konnte, war ein gegrunztes «Oui, madame» oder «Non, monsieur». Ich vergas nie, madame oder monsieur
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