Die Schwesternschaft
1
Leningrad, Kleines Tschechow-Theater
Sonntag, 15. November 1942, 17.18 Uhr
Welchen Sinn hatte es, bei all der Verwüstung ein Theaterstück auf die Bühne zu bringen?
»⦠und den Genossen Schauspielern vertraue ich die Aufgabe an, die Moral der proletarischen Kämpfer in Militär und Gesellschaft hochzuhalten und ihre Herzen mit der Dichtung und den Werken der Söhne unserer groÃartigen Mutter Russland zu erfreuen«, hatte der Genosse Marschall in der Radiosendung vom Vorabend erklärt.
Nutzlose Propaganda, dachte sie traurig. Sie würden alle sterben, wie Mäuse in der Falle.
Olga Twardowski lieà sich von ihrem Stuhl gleiten, trat an das Mansardenfenster und legte die Hände auf das kalte, leicht beschlagene Glas. Von hier oben konnte man ganz Leningrad überblicken. Wegen der Ausgangssperre war alles vollkommen dunkel. Plötzlich tauchten hinter der Fensterscheibe, direkt vor ihren Augen, ein paar zarte Schneeflocken auf, schimmerten einen kurzen Augenblick lang vor dem schwarzen Nichts auf und verschwanden wieder. In unregelmäÃigen Abständen zerrissen die Leuchtgeschosse der Luftabwehr das Dunkel der Nacht und hinterlieÃen ihre Spuren, wie aufsteigende Sterne.
Von der vereisten StraÃe drangen die knirschenden Schritte genagelter Stiefel zu Olga hinauf. Sie marschierten im Gleichschritt. Vielleicht Armeesoldaten, überlegte sie. Oder eine Arbeitermiliz, die das Viertel auf der Jagd nach deutschen Vorposten durchkämmte. Oder eine Abteilung der Wehrmacht, die es geschafft hatte vorzudringen.
Sie hoffte, dass Yuri wie immer erfolgreich sein würde.
Sie hantierte ein wenig an dem Frequenzregler des Radios herum. Die alten Röhren brummten, und Dutzende verschiedener Stimmen folgten rasch aufeinander.
SchlieÃlich stellte sie Radio Berlin ein.
Wenn sie die Nachrichten aus dem Reich hörte, hatte sie das Gefühl, ein wenig mehr darüber zu erfahren, und das wirkte in gewisser Weise beruhigend. AuÃerdem kannte sie die Sprache gut. Ihre Mutter war in Prag geboren worden und hatte bis zum letzten Tag immer deutsch mit ihr gesprochen.
Die erschütternde Nachricht kam am Ende der kurzen Sendung, dem Teil, der den Bündnispartnern gewidmet war. Der Italien-Korrespondent berichtete, dass die bekannte Filmschauspielerin Elsa Ambrosini unter mysteriösen Umständen in Rom verschwunden sei. Die faschistische Polizei untersuche den Fall, aber man fürchte um ihr Leben. Ihre zahllosen Bewunderer in Italien und Deutschland seien äuÃerst besorgt.
Olga schaltete das Radio aus, kehrte zum Fenster zurück und sah hinaus in die Dunkelheit, die ihr mit einem Mal noch schwärzer erschien.
Ihre geliebte Elsa. Offenbar hatte es ihr nichts genutzt, die heimliche Geliebte des Ministers für Volkskultur zu sein. Irgendein Neider, oder vermutlich eher eine Neiderin, musste ihre jüdischen Wurzeln ans Licht gebracht haben.
Olga brach in Tränen aus, lieà ihnen freien Lauf. Sie fühlte sich plötzlich einsam und ohnmächtig. Erst Mary und nun Elsa. Zwei Schwestern fürs Leben. Beide verloren, innerhalb von nur vierundzwanzig Tagen.
Jetzt war sie die einzige noch verbliebene Hüterin des Buches der Blätter. Und früher oder später würde sie von einer Bombe getroffen, von einer Salve erwischt werden oder in einem Gefangenenlager vor Hunger und Kälte sterben. Sie begriff, dass es kein Entrinnen gab: Nach über drei Jahrtausenden war das Mahl vom Ende bedroht.
Im selben Augenblick wurde die Tür des Saales aufgerissen und knallte gegen die Wand, als wenn ihr jemand einen Tritt versetzt hätte. Yuri trat ein, begleitet von einem Schwall eiskalter Luft. Der Junge war in einen schweren, viel zu groÃen Wintermantel gehüllt. Mit energischer Geste riss er sich die schneebedeckte Mütze vom Kopf, warf sie auf den Boden, eilte auf sie zu und hielt ihr ein in zerknittertes Papier gehülltes Päckchen hin.
Er wirkte zerknirscht. »Bitte sehr, Madame. Fünfzig Gramm schwarze Farbe. Etwas anderes konnte ich nicht auftreiben«, sagte er mit seinem schwerfälligen kasachischen Akzent und stellte das Päckchen auf den Zeichentisch, um es auszuwickeln.
Olga hatte noch nicht mit ihm gerechnet. Bevor sie sich umdrehte, wischte sie sich heimlich mit dem Handrücken die Tränen ab. Dann trat sie langsam an den Tisch und setzte sich auf den Stuhl.
»Eigentlich hatte ich dich um Grau gebeten.
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