Landnahme
herumbekommen haben. Sie hatte ihn auf eine Art und Weise in der Hand, wie es mir nie gelungen war. Irgendetwas an ihr musste es geben, das ich nicht hatte und das Bernhard gefiel, und ganz gewiss war es nicht ihr Aussehen. Sylvie hatte das Gesicht einer Maus, einer blassen, verfrorenen und verängstigten Spitzmaus, deren winzige Augen beständig unterwegs waren, misstrauisch und zugleich begierig, nichts zu versäumen und immer auf der Hut zu sein. Sie hatte wirklich die Augen eines kleinen Nagetiers, dicht zusammenstehend und unruhig. Wenn man sie ansah, wurde man selbst unruhig, weil ihre kleinen Augen fortwährend um einen herumtasteten, als würden sie sogar die Luft drum herum beobachten. Ihre Nase sprang hervor, spitz und kantig und ohne jede Rundung, an der kann man sich blutig verletzen. Und sie hatte dicke Beine, richtige Kartoffelstampfer, bei denen man weder die Wade noch die Knöchel erkennen konnte, das war alles eine Linie, ungeformt, als wären es Rohlinge, aus denen man eines Tages erst einPaar Beine machen wollte. Sylvie war hässlich, abgrundtief abstoßend, ihr Bild würde man nie in einer Zeitschrift sehen können, und bei ihr kam keiner auf den Gedanken, sie sei einer berühmten Filmschauspielerin ähnlich.
Aber irgendetwas gab es, das die Jungen zu ihr hinzog. So war es schon in der Schule gewesen. Es gab die Schönheiten, zwei oder drei, nach denen sich die Mädchen richteten und ihre Frisuren und Kleidung anzupassen versuchten, und es gab die Frechen und Vorlauten, die überall den Ton angaben. Und ich gehörte eigentlich zu diesen beiden Gruppen, auch wenn ich bei den Mädchen in der Klasse nicht hoch im Kurs stand. Ich sah gut aus und war immer tipptopp angezogen, und auf den Mund gefallen war ich nicht. Wenn das letzte Wort gefallen war, wenn irgendetwas zu einem Abschluss gekommen war, dann konnten alle darauf wetten, dass mir noch eine Bemerkung einfiel, die ich laut verkünden musste, selbst wenn sie mir einen Tadel einbrachte. Ich konnte meine Einfälle nicht unterdrücken, sie kitzelten mir im Magen, in der Brust, auf der Zunge, ich musste den Satz loswerden, ganz egal, was es mich kosten würde.
Und dann gab es da die anderen, die durch nichts auffielen, die weder hübsch waren, noch sich durch ihre Kleidung hervortun konnten, die immerzu mit ihren Freundinnen tuschelten, mit Mädchen, die ebenso unauffällig wie sie selbst waren, und die verstummten, sobald ein anderer hinzukam. Graue Mäuschen, die durch nichts auffielen. Wenn die einmal eine große bunte Schleife in ihr Haar banden, sagte keins der Mädchen zu ihnen: toll, gut sieht das aus, denn bei denen wirkte es nur lächerlich, und wer es gut mit ihnen meinte, der übersah es einfach, und am nächsten Tag erschienen diese Mädchen wieder mit ihren üblichen und unansehnlichen Klamotten. Wenn ein Junge mit einer von denen zusammenstand und es hieß, sie würden miteinander gehen, so war nie jemand neidisch. Man war verwundert und sagte etwas Freundliches, eine anerkennende Bemerkung,weil man es gar nicht für möglich hielt und keinesfalls für dauerhaft.
Sylvie war eine von diesen grauen Mäusen, aber sie hatte immer zwei, drei Bengel um sich, und sie war wahrscheinlich die Erste in unserem Jahrgang, die einen festen Freund hatte, schon in der vierten Klasse. Wenn es auseinander ging, war sie es stets, die Schluss gemacht hatte, und es gab immer gleich einen neuen Jungen, der sich bei ihr einzukratzen versuchte. Es war nicht ihre Schönheit, das ganz gewiss nicht, vielleicht hatte sie einen Geruch an sich, der die Jungen anzog, einen Geruch, den nur die Jungen riechen, einen Geruch, mit dem die hässlichste Blume der Welt noch Scharen von Hummeln und Bienen anlocken kann. Irgendetwas war an ihr, das ich nicht verstand und das auch die anderen Mädchen nicht begriffen. Keine verstand, wieso die Jungen um sie herumstanden und laut lachten, wenn sie etwas sagte, das witzig sein sollte.
Griesels Gehöft lag dem Friedhof gegenüber. Eine lange und hohe Mauer, unterbrochen von zwei kleinen Stallfenstern, dem riesigen Tor und einer uralten Hoftür, grenzte es zur Straße ab. Die Hoftür wurde nie benutzt, das Hoftor dagegen stand den ganzen Tag über weit offen und gab den Blick frei auf die Stallungen und den Misthaufen. Das Wohnhaus lag rechts hinter der Mauer, man konnte es sehen, wenn man den Hof betrat. Am heiligen Sonntag wurde bei Griesels nicht gearbeitet, dann war das Tor verschlossen. Als wir eintrafen, standen sieben
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