Landnahme
zu lange.«
»Sehr schön«, sagte Frau Heidepriem und strahlte mich an, »ich wusste, das ich mich auf dich verlassen kann. Du hast Veda, Mädchen. Und nun geh und schließ die Tür auf. Es ist schon neun.«
Mit Bernhard habe ich nie wieder gesprochen. Man sah sich gelegentlich, und zweimal war ich in seiner neuen großen Werkstatt, um etwas zu bestellen, doch da haben wir über die Bestellung gesprochen und kein Wort darüber hinaus. Er war inzwischen längst verheiratet, nicht mit Sylvie jedoch, wie ich gedacht hatte. Ein paar Jahre nach mir hatte er ein Mädchen aus Spora geheiratet, auch das ließ mich kalt, denn ich hatte andere Freunde und andere Interessen.
Heute denke ich manchmal daran, was aus mir geworden wäre, wenn wir zusammengeblieben wären und vielleicht geheiratet hätten. Und dann bin ich froh und erleichtert, denn er gehört nicht zu meinen guten Erinnerungen. Wenn man so wenig Liebe für einen anderen Menschen hat wie ich für Bernhard, so hätte das nicht lange gereicht, und wir hätten uns ein Leben lang gehasst oder uns verachtet. Wie so viele Ehepaare in der Stadt, denn mir haben die Frauen auf dem Stuhl und unter der Haube alles erzählt, jedenfalls wenn ich sie längere Zeit als Kundinnen hatte. Wenn ich hinter ihnen stand und unsere Augen sich im Spiegel begegneten, dann begannen sie alle zu erzählen, ob jung oder alt. Dann sprudelte es nur so aus ihnen heraus. Sie haben mir von ihrem Glück erzählt und ihren Kindern, und sie sprachen über ihren Mann und die Ehe, und ein paar sagten ganz offen, dass sie ihren Kerl umbringen würden, wenn sich dafür eine Gelegenheit biete. Im Salon habe ich Sachen erfahren, die ich nicht für möglich hielt, habe von Schweinereien gehört, die unglaublich sind und von denen ich imKino nie etwas gesehen hatte. Wenn ich mit der Frau fertig war und ihr Kopf in Ordnung, jedenfalls das, was ich machen konnte, dann hat sie sich rasch die Tränen abgetupft, und schon beim Bezahlen an der Kasse wirkte sie wieder stolz und kräftig und von aller Welt bewundert. Ich denke, selbst die gläubigen Frauen haben mir wahrscheinlich mehr erzählt als ihrem Priester.
Ich dagegen habe mit Susanne immer alles besprochen. Mit allem, was mir wichtig war, ging ich zu ihr. Und darum wollte ich damals, dass ich meinen ersten Kuss bei ihr auf dem Waldfriedhof bekomme. Ich ging oft mit Bernhard dorthin, denn dort lag meine ältere Schwester, die ich nie kennen gelernt hatte. Susanne war zwei Jahre vor mir geboren und hatte nur fünfzehn Monate gelebt. Sie bekam Tuberkulose, und die Ärzte im Waldkrankenhaus konnten nichts machen. Zu ihr bin ich mein Leben lang gegangen, von der ersten Klasse an. Ich pflanzte Blumen auf ihr Grab und goss sie, und ich erzählte ihr alles. Wenn ich von ihr nach Hause kam, ging es mir immer viel besser.
Bernhard sagte kein Wort, als ich ihm das erste Mal vorschlug, auf den Friedhof zu gehen, er fand es nicht merkwürdig, auf einem Friedhof spazieren zu gehen, wie die anderen in der Klasse. Und irgendwann erzählte ich ihm von meiner Schwester, und da nickte er, als sei es selbstverständlich. Er sagte, er würde gern zu seinem Großvater gehen, der liege ein paar hundert Kilometer entfernt, und sein Grab sei für die ganze Familie nicht erreichbar.
»Hattest du deinen Opa gern?«, fragte ich ihn.
Er hat genickt, die Unterlippe vorgeschoben und gesagt: »Mein Opa war der Einzige ...«
Dann brach er ab und hat diesen Satz nie vollendet. Ich habe ihn manchmal nach diesem Großvater gefragt, er hat mir nie mehr über ihn erzählt. Vielleicht hat er ihn so geliebt wie ich meine Schwester. Oder vielleicht noch mehr, denn er hatte ihn kennen gelernt, während ich sie nie gesehen habe.Jedenfalls habe ich Bernhard an Susannes Grab geküsst, weil ich meinte, lange genug gewartet zu haben, und weil ich der Ansicht war, dies sei genau der richtige Platz. Wenn irgendjemand wissen sollte, dass ich einen Freund habe, dann war es meine ältere Schwester, die nicht einmal zwei Jahre alt geworden war, und falls sie zusah, als ich mich zum ersten Mal mit ihm küsste, dann würde es ihr vielleicht Spaß machen. Wir saßen auf der winzigen verrosteten Grabeinfassung von Frau Grambow, die neben ihr lag, die dort schon zweiunddreißig Jahre und achtzehn Tage gelegen hatte, bevor Susanne starb, ich erzählte, und Bernhard hörte mir zu, und dann küsste ich ihn. Das war schön, sehr schön. Und es war gut, dass nie mehr zwischen uns passiert ist und ich ihn nicht
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