WAKE - Ich weiß, was du letzte Nacht geträumt hast (German Edition)
9. Dezember 2005, 12:55 Uhr
Janie Hannagan fällt das Mathematikbuch aus der Hand. Sie hält sich an der Tischkante fest. Um sie herum wird es schwarz und still. Seufzend legt sie den Kopf auf den Tisch, versucht, sich aufzuraffen, versagt jedoch jämmerlich. Heute ist sie viel zu müde. Zu hungrig. Für so etwas hat sie einfach keine Zeit.
Und dann …
Sie sitzt auf der offenen Tribüne des Rugbystadions und blinzelt zwischen den brüllenden Zuschauern ins Licht. Sie sieht sich unter den Leuten auf der Tribüne um – Klassenkameraden, Eltern – und versucht, den Träumenden auszumachen. Seine Angst ist deutlich zu spüren, aber wo ist er? Dann sieht sie auf das Rugbyfeld, findet ihn und verdreht die Augen.
Es ist Luke Drake. Keine Frage. Schließlich ist er im Abschlussspiel der einzige nackte Spieler auf dem Feld.
Es scheint niemandem aufzufallen oder zumindest niemanden zu stören. Außer ihn. Der Ball wird gefangen und die Reihen prallen aufeinander, doch Luke bedeckt sich mit den Händen und hüpft von einemBein aufs andere. Sie spürt seine wachsende Panik. Janies Fingerspitzen kribbeln und werden taub.
Luke sieht Hilfe suchend zu ihr herüber, als sich der Ball wie eine Gewehrkugel in Zeitlupe auf ihn zubewegt. »Hilfe!«, sagt er.
Sie fragt sich, ob sie ihm helfen kann. Fragt sich, ob sie den Verlauf von Lukes Traum beeinflussen kann. Ihr fällt ein, dass ein gestärktes Selbstbewusstsein des besten Fängers am Tag vor dem großen Spiel dazu führen könnte, dass die Fieldridge Highschool beim Kampf um die Meisterschaft wieder im Rennen ist.
Aber eigentlich ist Luke ein Schwachkopf. Er würde es nicht zu schätzen wissen. Also sieht sie dem Debakel einfach nur zu und fragt sich, ob er Stolz oder Ruhm den Vorrang gibt.
Er ist nicht so toll, wie er glaubt.
So viel ist mal sicher.
Der Ball hat Luke fast erreicht, als der Traum wieder von vorne losgeht. Oh, mach schon weiter, denkt Janie. Sie konzentriert sich in ihrem Sitz auf der Tribüne und schafft es, langsam aufzustehen. Sie versucht, für den Rest des Traumes nach hinten zu gehen, damit sie nicht weiter zusehen muss, und erstaunlicherweise schafft sie es dieses Mal.
Das ist gut.
13:01 Uhr
Janies Gedanken werden wieder in ihren Körper katapultiert. Immer noch sitzt sie in ihrer üblichen, entlegenen Ecke der Schulbibliothek, krümmt die schmerzenden Finger, hebt den Kopf. Als sie wieder sehen kann, lässt sie den Blick durch die Bibliothek schweifen.
Den Schuldigen erblickt sie an einem Tisch etwa fünf Meter weiter. Jetzt ist er wach, reibt sich die Augen und grinst verlegen die beiden anderen Rugbyspieler an, die lachend neben ihm stehen. Ihn anstoßen und ihm spielerisch auf den Kopf schlagen.
Janie schüttelt den Kopf, um ihn freizubekommen, und hebt das Mathematikbuch auf, das aufgeschlagen und verkehrt herum auf dem Tisch liegt, wo sie es hat fallen lassen. Darunter findet sie einen kleinen Snickers-Riegel. Sie lächelt leise und sieht nach links zwischen die Buchreihen.
Aber dort ist niemand, bei dem sie sich bedanken kann.
Wie alles begann
23. Dezember 1996, abends
Janie Hannagan ist acht. Sie trägt ein dünnes Kleid mit verblichenem rotem Druckmuster und zu kurzen Ärmeln, rutschende verwaschene Strumpfhosen, graue Moonboots und einen braunen ausgefransten Mantel, an dem zwei Knöpfe fehlen. Ihr langes, straßenköterblondes Haar steht elektrisiert ab. Sie fährt mit ihrer Mutter im Zug von Fieldridge in Michigan zu ihrer Großmutter nach Chicago. Mutter sitzt auf dem Platz ihr gegenüber und liest den Globe . Auf dem Cover ist ein Bild von einem riesigen Mann in einem taubenblauen Smoking. Janie lehnt den Kopf ans Fenster und beobachtet, wie es von ihrem Atem beschlägt.
Die Atemwolke, die sich bildet, nimmt ihr so langsam die Sicht, dass sie gar nicht merkt, was geschieht. Einen Augenblick lang schwimmt sie im Nebel, dann sitzt sie in einem großen Zimmer an einem Konferenztisch, zusammen mit fünf Männern und drei Frauen. Vor ihnen steht ein großer, langsam kahl werdender Mann mit einer Aktentasche. Nur in Unterwäsche versucht er, einen Vortrag zu halten, doch erist aufgeregt. Er will sprechen, aber er bringt kein Wort hervor. Die anderen Erwachsenen tragen alle frisch gebügelte Anzüge. Sie lachen und zeigen auf den Mann in Unterwäsche.
Der kahlköpfige Mann sieht Janie an.
Und dann sieht er die Leute an, die ihn auslachen.
Sein Gesicht verzieht sich
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