Landnahme
besonders bedeutsam erschien. Als der fremde Mann vom Kreis mit seiner Rede fertig war, sagte der Vorsitzende der Genossenschaft mehrmals zu Griesel: »Wir brauchen dich, Hannes.«
Griesel, der meinem Vater später die Geschichte erzählte, sagte, dass er sich nie mit diesem Kerl geduzt habe und überrascht war, dass der ihn mit seinem Vornamen ansprach.
Als die beiden Männer fertig waren, haben sie Griesel und seine heulende Frau angeschaut und gewartet, dass der Bauer ihnen antworte. Griesel habe sie schweigend angesehen, dann habe er ausgespuckt, mitten auf die Fliesen seiner Küche, und zu seiner Frau gesagt: »Sei still. Hör auf zu flennen. Ich unterschreibe ja.«
Und das habe er dann gemacht. Als die Agitatoren ihm nach der Unterschrift gratulieren wollten, habe er gebrüllt: »Hinaus.«
An diesem Sonntag haben vier von den fünf Bauern in Guldenberg unterschrieben. Der fünfte, Herr Hausmann, besaß ein Telefon und war von dem Anrücken der Agitatoren zuvor unterrichtet worden. Er sicherte das Hoftor und die Tür und ließ den Hund von der Kette. Als die Gruppevor seinem Hof erschien, ließ er sie eine Stunde vor dem verschlossenen Tor stehen, dann habe er sich über seinen Sonntagsanzug einen Bademantel gezogen, sei in den Pferdestall gegangen, von dem aus ein Fenster zur Straße geht, habe es geöffnet und den Agitatoren gesagt, er sei krank und könne darum keinen Besuch empfangen. Dann habe er mit der Frau in der Küche gewartet, bis die wilde Jagd, wie er sagte, weitergezogen sei. Wenn die anderen so klug gewesen wären, dann hätten sie noch heute freie Bauern sein können. Das erzählte Herr Hausmann am Sonntagabend in der Kneipe, aber es hat ihm nichts geholfen. Zwei Tage später sei eine andere Truppe gekommen, sie habe ihn in seinem Kuhstall bedrängt, und Herr Hausmann habe schließlich unterschrieben, weil er der letzte Bauer im ganzen Kreis gewesen sei, der keinen Aufnahmeantrag für die Genossenschaft gestellt hatte, was die Partei nicht länger hinnehmen wollte.
An jenem Sonntag, als sie bei Griesel und den anderen Bauern in Guldenberg erschienen, hatte ich zum ersten Mal meine Lackschuhe an, die schwarzen Lackschuhe mit Schnallen. Ich hatte sie eine Woche im Schuhhaus Gerhartz zurückstellen lassen, weil ich das Geld nicht zusammenhatte. Am Donnerstag war ich gleich nach der Arbeit zu Gerhartz gerannt, hatte der alten Frau Gerhartz, die noch immer durch den Laden tackelt, das Geld auf den Tisch gepackt und war, ohne sie nochmals anzuprobieren, mit den traumhaften Lackschuhen aus dem Geschäft nach Hause gerannt. Dort bin ich gleich hineingeschlüpft und habe sie Mutter vorgeführt. Sie gefielen ihr auch, nur fand Mutter sie viel zu teuer, obwohl ich ihr einen niedrigeren Preis nannte. Da ich sie von meinem eigenen Geld gekauft hatte, konnte sie nichts sagen. Anschließend habe ich sie wieder in das Seidenpapier gewickelt und in den Pappkarton gelegt, um sie erstmals am Sonntag anzuziehen.
Vater bemerkte natürlich nichts, er sah die Schuhe garnicht, obwohl ich sie ihm direkt vor die Nase hielt, Mutter schaute sie sich immer wieder an. Nach dem Frühstück ging Mutter in die Kirche, Vater zog seine Arbeitsklamotten an und marschierte in seinen geliebten Kleingarten an der Hüfnermark, und ich räumte den Tisch ab und wusch das Geschirr ab. Um zehn Uhr traf ich mich mit ein paar ehemaligen Schulfreundinnen am Paradeplatz. Ich hatte mich mit ihnen nicht verabredet, am Sonntagvormittag trafen sich die früheren Mitglieder des Schulchors nach wie vor dort an einer der Bänke. Meistens waren es drei oder vier Mädchen, denn einige waren weggezogen und andere kamen nicht mehr so regelmäßig wie früher. Man hatte daheim zu tun oder traf sich mit dem Freund, denn einen Freund hatten schließlich alle von uns. Als ich eintraf, saß Traudel auf der Bank, und Kathrin stand vor ihr. Sie musterten mich schweigend von oben bis unten, bevor sie guten Tag sagten. Ich war froh, dass ich nicht die Windjacke angezogen hatte, denn so wie die Mädchen mich musterten, hätte mir das alte Ding sicher eine bissige Bemerkung eingebracht. Die Schuhe sahen sie sofort. Traudel wusste sogar den Preis, sie hatte sie bei Gerhartz anprobiert und sagte, ihr würden sie nicht passen, sie hätte einen zu hohen Spann, und deshalb könne sie keine Schnallenschuhe tragen. Dass sie ihr zu teuer waren, sagte sie nicht, und ich verlor kein Wort darüber. Ich setzte mich neben Traudel und schlug ein Bein über das andere, so
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