Lasst eure Kinder in Ruhe
randvollen Plastizität seines Verstandes die Welt jedes Mal neu erstehen lässt, zumindest jedes Mal ein bisschen anders, mit einem anderen Blick und einer anderen Weite.
Jesus sagte: »Siehe, es ist alles neu geworden.« 1 So ist es! Dasselbe finden wir, wenn wir nur genau hinschauen, im Spiel unserer Kinder. In ihrer kleinen Welt, ihrer Spielwelt, ihrer Arbeitswelt, ihrer mühseligen Welt der Anpassung und der Anstrengung. Ein anderes Lernen, nicht wahr, als das mühselige nach Plänen und Schritt für Schritt monotone.
Jesus sagte: »Wer Augen hat zu sehen, der sehe.« Für mich werden viele Worte Jesu ganz anschaulich, sie verlieren
etwas von ihrem dröhnend-vertrauten Klang, den sie über die Jahrhunderte angenommen haben, wenn ich sie auf Kinder beziehe, auf Kinderspiele, Kinderwünsche. »Siehe, es ist alles neu geworden« – mehr Hoffnung gibt es auf Erden nicht.
Schauen wir also hin, auf unsere Kinder, auf jedes einzelne. Dann wird dieses Wort ganz gegenwärtig, nicht aufgeplustert mit Heilsversprechen und Ähnlichem. Nein, es ist hier, vor unseren Augen, wir müssen nur hinschauen und dürfen es mit unserem Bildungseifer nicht nachlässig zertreten. Es ist hier, jetzt, in großer Wahrhaftigkeit.
Ach wehe, meine Mutter reißt mich ein.
Da hab ich Stein auf Stein zu mir gelegt,
und stand schon wie ein kleines Haus,
um das sich groß der Tag bewegt,
sogar allein.
Nun kommt die Mutter,
kommt und reißt mich ein.
So heißt es in einem bewegenden Gedicht von Rainer Maria Rilke. Und weiter: Sie sieht es nicht, dass einer baut. Sie erfährt das Wunder nicht, sie hat einen Termin, sie weiß, dass ihr Sohn fünf Vokabeln zurück ist im Vergleich zu seiner Gruppe – was geschieht? »Sie kommt und reißt mich ein.«
Schauen, mit Staunen gemischt, ist Grundlage einer guten Erziehung. Da zerfällt wie von selbst all das, was zurzeit dröhnend durch die Erziehungslandschaft wabert:
das ewige Gerede von Gehorsam, Disziplin, Ordnung, Grenzensetzen. Natürlich müssen wir unsere Kinder auch auf die Beschaffenheit des Realen hin gewöhnen, natürlich sollen sie lernen, und Lernen ist manchmal mühselig. Aber das Wichtigste ist es nicht. Das Wichtigste ist dieses Staunen.
Unsere Kinder bemerken es sofort. Sie bemerken das Verwundert-Liebevolle in unserem Blick, unserem Staunen. Dann lächeln sie und ihre kleine Spielwelt wird noch größer, noch weiter, noch erfüllter von Hoffnung. Sie wird noch mehr »Neuheit der Welt«. So etwas nenne ich gute Erziehung.
1
Vgl. hierzu mein Buch Geheimnisvoll wie der Himmel sind Kinder. Was Eltern von Jesus lernen können, München: Kösel, 2. Aufl. 2010
Das Drama der modernen Kleinfamilie – und der Run auf Förderung
NOCH NIE WUSSTE EINE ELTERNGENERATION so viel über Erziehung, über die körperliche und seelische Entwicklung ihrer Kinder. Noch nie wurden Kinder so genau fachwissenschaftlich beobachtet, in ihren Entwicklungsschritten statistisch erfasst. Und noch nie wurde jede minimale Erkenntnis in Form von Normtabellen über Ärzte und in Schulen an Eltern weitergereicht. Medien nehmen sie auf, Themen wie »Was Ihr Kind alles können sollte!«, in denen jeder einzelne Entwicklungsschritt eines Kleinkindes penibel aufgelistet wird, finden sich in der Bild am Sonntag ebenso wie in Frauenzeitschriften. Eltern wissen über alles Bescheid – das macht Angst.
Die Zahlen suggerieren eine Eindeutigkeit, die es in der kindlichen Entwicklung nicht gibt. Folge: Die kleinste Abweichung wird besorgt registriert, jede winzige Andersartigkeit lastet wie ein Schuldvorwurf auf den jungen Eltern. »Müssen wir nicht irgendwas unternehmen? «, fragen sie sich besorgt. »Wollt ihr da gar nichts machen?«, erkundigen sich Großtanten, die auch Frauenzeitschriften lesen, oder ein gebildeter Onkel, der aus Stern oder Spiegel die gegenwärtigen Erziehungsdebatten genau kennt. Allen gemeinsam ist klar, dass moderne Kindheit ein reines Desaster sein kann: Gefahren und
seelische Verirrungen lauern schon im Kindergarten, Kinder mutieren bei geringsten Erziehungsfehlern zu Schlägern und Tyrannen, mobben wie wild herum oder haben Leseschwächen. Das alles prasselt auf die jungen Eltern ein und sie starren wie gebannt auf die pädagogischen Informationen und Debatten und fürchten sich. 1
Das Problem: Unter dem ewig besorgten Blick geht den Eltern ihre Intuition für das Kind verloren. Ihre umstandslos liebevolle Freude darüber, wie es soeben seine Bauklötze stapelt und mit begeistertem
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