Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein
geht es darum, dass auch der Einzelne etwas tun kann, um zu verhindern, dass die scheinbare Katastrophe, die unserer Psyche vorgegaukelt wird, unser Denken und Handeln in dem Maße bestimmt, in dem es heute oft der Fall ist.
Dieser Ansatz vom einzelnen Erwachsenen her ist mir ganz wichtig, denn er verhindert das typische »Daran kann man ja sowieso nichts ändern«-Denken. Jeder Einzelne von uns kann für sich Ideen entwickeln, wie er sich Schlüsselerlebnisse verschaffen kann, die ihm helfen, wieder stärker in sich selbst zu ruhen und aus dieser Ruhe heraus intuitiv mit seiner Umwelt und eben auch insbesondere mit Kindern umzugehen.
Meinhard Miegel fragt in seinem wohlstandskritischen Buch »Exit« danach, wie es möglich werden könne, der nächsten Generation das Leben wieder lebenswert zu machen :
»Was vermitteln Eltern und Großeltern, Kindergärtnerinnen und Lehrer, Ausbilder und Professoren? Zeigen sie den ihnen Anvertrauten neben allem Lebensnotwendigen, Praktischen auch, hin und wieder im Spiel aufzugehen, sich gefangen nehmen zu lassen von der Natur und von den Künsten? Lehren sie sie, ein tiefsinniges Buch von einem flachen, einen guten Film von einem schlechten zu unterscheiden? Wecken sie in ihnen auch solche Fähigkeiten, die voraussichtlich nicht zum Geldverdienen taugen, sondern ›nur‹ zur Steigerung der Lebensfreude ? Machen sie ihnen bewusst, welche geringen materiellen Mittel der Mensch zu einem erfüllten Leben braucht, oder belassen sie sie in der Vorstellung ›we were born to shop‹ – ausschließlich zum Konsum bestimmt? Erschließen sie ihnen den Wert der Zeit, vor allem aber den ungeheuren Reichtum, der einzig in ihnen selber steckt – in ihrer Phantasie, Kreativität, Spontaneität, Empathie?« 36
All diese Fragen sind richtig gestellt, sie weisen in eine Richtung, die das Leben für alle lebenswerter machen würde und der Gier nach dem »immer mehr« eine Haltung der bewussten Bescheidenheit entgegensetzt.
All diese Verhaltensweisen, die Miegel zu Recht einfordert, brauchen als Grundvoraussetzung den in sich ruhenden Erwachsenen, der selbst den Wert dieser Ideale zu erkennen und damit auch zu vermitteln vermag. Wer sich abgegrenzt erlebt, nicht ständig neben sich steht und vom Katastrophenmodus der Psyche vor sich her getrieben wird, ist auch in der Lage, Kindern diese Ruhe mit auf den Lebensweg zu geben. Und mit dieser Ruhe wird auch der Wert von Phantasie, Kreativität und Empathie deutlich.
Denn Ruhe überträgt sich genauso wie Unruhe. Je jünger das Kind, desto stärker nimmt es die emotionale Befindlichkeit der ihn umgebenden Erwachsenen in sich auf. Ruhige Erwachsene, die intuitiv mit dem Kind umgehen, erzeugen ruhige Kinder, die ihre Kindheit genießen. Unruhige und getriebene Erwachsene, die ständig mit Druck auf Kinder einwirken, erzeugen, wenn dieser Druck dauerhaft vorhanden ist, die Entwicklungsstörungen im emotionalen und sozialen Bereich, die mir seit Jahren in immer höherem Maße begegnen.
Die Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern kann nur dann funktionieren, wenn jeder Part in seiner natürlichen Position ist. Sobald sich diese Positionen verschieben, kommt es zu Beziehungsstörungen. Sorgt also die hohe tägliche Belastung im Berufs- und Privatleben in Verbindung mit einem ständigen Bombardement mit Negativnachrichten in den Medien dafür, dass in der Psyche des Erwachsenen der Hebel auf Katastrophe umgelegt wird, kann er seine Position als strukturierendes Gegenüber für das Kind nicht mehr lange halten. Es ergibt sich eine defizitäre Position für ihn, die ihn schwach und bedürftig macht und aus der heraus sich das Kind zur Kompensation dieses Defizits anbietet.
Dann kommt es zu den Beziehungsstörungen der Projektion, in der der Erwachsene vom Kind geliebt werden will, und der Symbiose, in der der Erwachsene für das Kind denkt, fühlt und handelt.
Eine gute Zukunft – für uns und unsere Kinder und Enkel
Ein wesentlicher Teil meiner Arbeit als Kinderpsychiater liegt in der Beratung der Eltern. Die Behandlung der Symptome des Kindes allein würde bei einer in der Tiefe liegenden Entwicklungsstörung als Ursache nicht ausreichen. Auffällige Kinder sind keine auffälligen Kinder, weil ihnen das so viel Spaß macht und sie die Erwachsenen ärgern wollen. Es gibt Gründe für ihre Auffälligkeiten, die außerhalb ihrer selbst liegen.
Aber auch Erwachsene, die nicht mehr auf der richtigen Ebene zum Kind agieren und damit über die
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