Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein
kommt, weil hier der Faktor der Bewegung dazukommt. Nehmen wir an, die Probleme nehmen überhand, der Alltag belastet, wir erleben ständig neuen Stress bei der Arbeit, viele Termine in der Freizeit. Was wäre eine Möglichkeit, da für Entspannung und Abschalten zu sorgen? Sagen wir, ein Freund schlägt Ihnen vor, einen Waldspaziergang zu machen. Er preist die Ruhe in der Natur, keine nervenden Kollegen, keine Termine. Aus seiner Sicht kann es nichts Besseres geben.
Würden Sie sofort nachgeben und in den Wald gehen? Unwahrscheinlich. Die innere Abwehr wäre groß. Sie würden Gründe finden, warum das gerade jetzt nicht geht. Dieses muss noch erledigt werden, jenes duldet keinen Aufschub. Wald? Ja, aber später.
Vordergründig würden Sie all die Gründe, die Sie hindern, als real und wichtig definieren, selbst wenn diese es bei näherer objektiver Betrachtung nicht unbedingt sind. Genau dafür sorgt unsere auf Katastrophenmodus eingestellte Psyche, die wieder ihre Widerstände aufbaut. Sie will nicht raus aus dem hochgedrehten Zustand. Der Gedanke an die Ruhe im Wald, dort allein zu sein, nichts zu tun zu haben, sorgt in der Psyche nicht für Entlastung, sondern für Anspannung und Unbehagen.
Treiben wir das Experiment noch ein wenig weiter. Wenn Sie mögen, können Sie es ja auch einfach mal selbst ausprobieren. Nehmen wir an, Sie lassen sich doch breitschlagen und gehen in den Wald. Haben Sie damit gewonnen ? Den entscheidenden Schritt aus dem Hamsterrad gemacht? Nicht unbedingt. Ihre Psyche wird nämlich versuchen,
Sie auszutricksen. Auch im Wald selbst gibt sie sich nicht geschlagen, sondern sucht weiter nach Möglichkeiten, auf Touren zu bleiben, den Stress hoch zu halten. Sie sagt Ihnen: »Du kannst nicht einfach so in den Wald gehen. Du musst dieser Aktion einen Sinn geben!« Also werden Sie anfangen zu suchen: ein Ziel, zu dem Sie laufen, natürlich auf optimal kurzem Weg. Oder Sie nehmen den MP3-Player mit und hören das Hörbuch, die Musik, die Sie schon lange mal wieder »in Ruhe« hören wollten. Oder Sie sagen sich: Wald? Wunderbare Gelegenheit, mal wieder was für den Körper zu tun, ich nehme die Nordic-Walking-Stöcke mit und treibe Sport. Oder Sie nutzen die Gelegenheit für den Ausflug, den die Familie schon seit Wochen von Ihnen fordert.
Meine Analyse zeigt: Alles das sind verzweifelte Versuche, dem Waldspaziergang einen Sinn zu geben, ihn mit Aufgaben auszustatten, die es der Psyche erlauben, hochgefahren zu bleiben. Das Einzige, auf das man nicht so schnell kommen würde, weil die Psyche sich dagegen wehrt, ist: ab in den Wald und einfach nur laufen. Ohne konkretes Ziel, ohne Ablenkung, ohne Versäumtes damit zu verbinden. Möglicherweise wäre der Versuch, das zu tun, eines der letzten echten Abenteuer der modernen Zeit. Weil es so unglaublich schwer fällt.
Diesen Gedanken nachzuvollziehen mag im ersten Moment nicht ganz einfach sein. Das liegt daran, dass wir es mit einem Paradox zu tun haben. Der Waldspaziergang soll eigentlich dazu dienen, abzuschalten, runterzufahren, die Psyche zu entlasten. Doch das genaue Gegenteil passiert. Der Unterschied zu den vorangegangenen Beispielen ist hier die Bewegung, im Gegensatz zum Sitzen in der Kirche oder
dem Liegen auf dem Liegestuhl. Die mehrfachen Anläufe bei den bewegungslosen Modellen werden hier quasi durch die ständige Bewegung des Laufens abgebildet. So wie sich vorher auf den einzelnen Stufen nach und nach Entspannung einstellt, läuft man im Wald das Hamsterrad einfach aus, obwohl man sich das vorher im hochgedrehten Zustand des Hamsterrades überhaupt nicht vorstellen konnte. Es passiert auch nichts Schlimmes, kein Zusammenbruch oder sonstige Dramen. Auch hier spielt die Länge wieder eine entscheidende Rolle. Mit der Zeit fallen die Schutzmauern, die die Psyche aufbaut, weg. Man spürt sich wieder selbst, die innere Ruhe kehrt zurück. Damit sind auch das ständige Kreisen der Gedanken und das Gefühl eines Tunnelblicks vorbei.
Ein Schlüsselerlebnis ist wichtig, um überhaupt wieder in die Ruhe zurückzukommen. Es bedeutet jedoch nicht, dass mit diesem einmaligen Erlebnis das Thema ein für alle Mal erledigt ist. Wir sind jeden Tag aufs Neue in der Gefahr, den Hebel wieder in die andere Richtung umzulegen und in den Katastrophenmodus zurückzukehren. Die Anforderungen im Alltag werden ja nicht geringer, sie ändern sich nicht von heute auf morgen und schon gar nicht von alleine. Und auch die Dynamik der Negativnachrichten in den
Weitere Kostenlose Bücher