Lasst Knochen sprechen: 3. Fall mit Tempe Brennan
Temperance.« Er hob die Hand. »Ich bin nicht in der Position, dies zu entscheiden. Ich werde mit Monsieur Patineau sprechen.«
Stéphane Patineau war der Direktor des LSJML. Er traf, was die kriminaltechnischen und gerichtsmedizinischen Labore anging, die letzten Entscheidungen.
»Ich werde dafür sorgen, dass mein Engagement bei der Carcajou die Erfüllung meiner normalen Pflichten nicht beeinträchtigt.«
»Das weiß ich. Ich werde gleich am Montagmorgen mit dem Direktor sprechen. Aber jetzt gehen Sie nach Hause. Bone fin de semaine.«
Auch ich wünschte ihm ein schönes Wochenende.
Der Winter in Quebec endet ganz anders als der im Carolina Piedmont. Zu Hause gleitet der Frühling sanft heran, Ende März oder Anfang April fangen die Blumen an zu blühen, und die Luft ist weich von der Wärme des beginnenden Sommers.
Die Quebecer müssen sechs Wochen länger warten, bis sie ihre Gärten und Blumenkästen bepflanzen können. Der Großteil des Aprils ist kalt und grau, auf den Straßen glitzert das Schmelzwasser von Schnee und Eis. Aber wenn der Frühling kommt, tut er das mit einem Paukenschlag. Die Jahreszeit explodiert, und die Bevölkerung reagiert mit einer Begeisterung, die auf diesem Planeten ihresgleichen sucht.
An diesem Tag war das Frühlingserwachen noch Wochen entfernt. Es war dunkel, und es regnete leicht. Ich zog den Reißverschluss meiner Jacke hoch, senkte den Kopf und sprintete zu meinem Auto. Als ich in den Ville-Marie-Tunnel einfuhr, fingen eben die Nachrichten an. und der Toussaint-Mord war der Aufmacher. An diesem Abend hätte Emily Anne einen Preis in einem Aufsatzwettbewerb ihres Jahrgangs erhalten sollen. Ihr Siegeraufsatz hatte den Titel: »Lasst die Kinder leben.«
Ich schaltete das Radio ab.
Ich dachte an meine Pläne für den Abend und war froh, jemanden zu haben, der mich etwas aufmuntern konnte. Und ich schwor mir, mit Ryan nicht über die Arbeit zu reden.
Als ich zwanzig Minuten später die Tür zu meiner Wohnung aufschloss, klingelte das Telefon. Ich sah auf die Uhr. Zehn vor sieben. Ryan würde in vierzig Minuten hier sein, und ich wollte mich noch duschen.
Ich ging ins Wohnzimmer und warf meine Jacke auf die Couch. Der Anrufbeantworter sprang an, und ich hörte meine Stimme, die um eine kurze Nachricht bat. Birdie tauchte genau in dem Augenblick auf, als Isabelle sich meldete.
»Tempe, wenn du da bist, nimm ab. C’est important.« Pause. »Merde.«
Eigentlich wollte ich gar nicht reden, aber etwas in ihrer Stimme brachte mich dazu, nach dem Hörer zu greifen.
»Hallo, Isa–«
»Schalt den Fernseher an. CBC.«
»Ich weiß über das Toussaint-Mädchen Bescheid. Ich war im Institut –«
»Schnell!«
Ich griff zur Fernbedienung und schaltete den Apparat ein. Und dann hörte ich entsetzt zu.
5
»… Gegen Lieutenant-Detective Ryan wird schon seit Monaten ermittelt. Man wirft ihm den Besitz gestohlener Güter sowie den Besitz und Handel mit illegalen Substanzen vor. Ryan ergab sich ohne Gegenwehr den Beamten des CUM, als diese ihn heute Nachmittag vor seinem Haus im alten Hafen verhafteten. Er wurde ohne Gehalt vom Dienst suspendiert, die Polizei hat umfangreiche Ermittlungen aufgenommen.
Und nun weitere Meldungen. Finanzen: Die vorgeschlagene Fusion von…«
»T EMPE !«
Isabelles Stimme riss mich in die Gegenwart zurück. Ich hob den Hörer ans Ohr.
»C’est lui, n’est-ce pas? Andrew Ryan, Crimes contre la Personne, Sûreté du Québec?«
»Das muss ein Missverständnis sein.«
Während ich das sagte, zuckte mein Blick zum Kontrolllämpchen des Anrufbeantworters. Ryan hatte nicht angerufen.
»Ich muss jetzt auflegen. Er wird bald hier sein.«
»Tempe. Er ist im Gefängnis.«
»Ich muss machen. Ich rufe dich morgen an.«
Ich legte auf und wählte Ryans Privatnummer. Keine Antwort. Ich rief seinen Piepser an und gab meine Nummer ein. Keine Reaktion. Ich sah Birdie an. Er hatte keine Erklärung.
Um neun wusste ich, dass er nicht mehr kommen würde. Siebenmal hatte ich bei ihm zu Hause angerufen. Ich hatte seinen Partner angerufen, mit dem gleichen Ergebnis. Keine Antwort. Keine Reaktion.
Ich versuchte, die Abschlussarbeiten zu benoten, die ich von der UNC-Charlotte mitgebracht hatte, konnte mich aber nicht konzentrieren. Meine Gedanken kehrten immer wieder zu Ryan zurück. Die Zeit verging, und ich merkte, dass ich immer noch denselben Aufsatz im selben blauen Heft anstarrte, mein Hirn aber nichts von dem aufnahm, was der Student geschrieben
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