Lasst Knochen sprechen: 3. Fall mit Tempe Brennan
hatte. Birdie kuschelte sich in meine Kniekehle, aber das war nur ein schwacher Trost.
Es konnte nicht wahr sein. Ich konnte es nicht glauben. Wollte es nicht glauben.
Um zehn nahm ich ein langes Schaumbad, wärmte mir Tiefkühl-Spaghetti in der Mikrowelle auf und ging mit dem Teller ins Wohnzimmer. Ich wählte ein paar CDs aus, von denen ich hoffte, dass sie mich aufmuntern würden, und legte sie in den Player. Dann versuchte ich zu lesen. Birdie kam wieder zu mir.
Es half nichts. Meine Gedanken drehten sich immer noch im Kreis. Pat Conroy hätte ebenso gut auf Nahuatl gedruckt sein können.
Ich hatte Ryan im Fernsehen gesehen, die Hände mit Handschellen auf den Rücken gefesselt, flankiert von zwei uniformierten Beamten. Ich hatte gesehen, wie sie ihm den Kopf nach unten drückten, als er sich bückte, um in den Fond des Streifenwagens zu steigen. Trotzdem wollte mein Verstand es noch nicht glauben.
Andrew Ryan verkaufte Drogen?
Wie hatte ich mich in ihm so täuschen können? Hatte Ryan schon die ganze Zeit, die ich ihn kannte, gedealt? Gab es bei diesem Mann eine Seite, die ich noch nie gesehen hatte? Oder war das alles ein schreckliches Missverständnis?
Es musste einfach ein Missverständnis sein.
Die Spaghetti wurden auf dem Tisch kalt. Der Appetit war mir vergangen. Und die Lust auf Musik ebenfalls. Big Bad Voodoo Daddy and The Johnny Favourite Band spielten Swing, der einen Gulag zum Tanzen gebracht hätte, aber mich konnte er nicht aufheitern.
Der Regen war stärker geworden, er trommelte in leisem, regelmäßigem Rhythmus gegen die Fenster. Mein Frühling in Carolina schien in weiter Ferne zu liegen.
Ich wickelte mir ein paar Spaghetti auf die Gabel, aber bei dem Geruch drehte sich mir der Magen um.
Andrew Ryan war ein Krimineller.
Emily Anne Toussaint war tot.
Meine Tochter war irgendwo auf dem Indischen Ozean.
Ich rufe Katy oft an, wenn ich niedergeschlagen bin, aber in den letzten Monaten war das schwierig. Sie verbrachte im Rahmen des Semester at Sea -Programms den Frühling auf See und bereiste an Bord des S. S. Universe Explorer die Weltmeere. Das Schiff sollte erst in fünf Wochen zurückkehren.
Ich ging mit einem Glas Milch ins Schlafzimmer, öffnete das Fenster und starrte hinaus. In meinem Kopf herrschte Chaos.
Durch den dunkel glänzenden Regenschleier sahen die Bäume und Büsche aus wie schwarze Schatten. Dahinter sah ich Scheinwerfer und die leuchtende Neonreklame des depanneur an der Ecke. Hin und wieder rauschten Autos vorbei, oder Fußgänger eilten mit klappernden Absätzen den Bürgersteig entlang.
Alles Routine. Alles ganz normal. Nur ein gewöhnlicher verregneter Abend im April.
Ich ließ den Vorhang wieder vors Fenster fallen. Als ich ins Bett ging, hatte ich starke Zweifel, dass meine Welt so schnell wieder zur Normalität zurückkehren würde.
Den nächsten Tag verbrachte ich mit Geschäftigkeit. Auspacken. Putzen. Lebensmittel einkaufen. Ich mied Radio und Fernsehen, wart nur einen kurzen Blick in die Zeitung.
Die Gazette brachte den Toussaint-Mord als Titelgeschichte. S CHÜLERIN IN B LUTIGER S CHIESSEREI GET ö TET . Neben der Schlagzeile war eine Vergrößerung von Emily Annes Foto aus der vierten Klasse. Ihre Haare waren zu Zöpfen geflochten, die an den Enden von großen rosa Schleifen zusammengehalten wurden. Ihr Lächeln zeigte Lücken, die ein Erwachsenengebiss nie würde füllen können.
Das Foto von Emily Annes Mutter war ähnlich herzzerreißend. Die Kamera hatte eine schlanke schwarze Frau mit zurückgeworfenem Kopf und weit offenem, zu einem Schmerzensschrei verzerrtem Mund eingefangen. Mrs. Toussaint hatte die Hände unter dem Kinn gefaltet, die Knie hatten ihr nachgegeben, und sie wurde rechts und links von zwei großen schwarzen Frauen gestützt. Unaussprechlicher Kummer schrie aus diesem grobkörnigen Foto.
Der Artikel brachte nur wenige Details. Emily Anne hatte zwei jüngere Schwestern, Cynthia Louise, sechs Jahre, und Hannah Rose, vier. Mrs. Toussaint arbeitete in einer Bäckerei. Mr. Toussaint war vor drei Jahren bei einem Betriebsunfall ums Leben gekommen. Aus Barbados stammend, war das Paar nach Montreal emigriert, um seinen Töchtern ein besseres Leben bieten zu können.
Der Trauergottesdienst sollte am Donnerstag um acht Uhr in der katholischen Kirche Our Lady of the Angels stattfinden, das Begräbnis anschließend auf dem Friedhof Notre-Dame-des-Neiges.
Berichte über Ryan wollte ich weder lesen noch hören. Ich wollte mit ihm
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