Lauf, so schnell du kannst
Parkplatz und stieg die Treppe zu Harlans Büro hinauf. Harlan hörte ihn natürlich kommen; seine Stiefel knallten auf den Stufen und den Brettern des Treppenabsatzes. Als er die Tür öffnete, hatte sich Harlan bereits in seinem Drehstuhl umgedreht und erwartete ihn mit einem gespannten Ausdruck auf dem geröteten Gesicht.
»Dare«, sagte er mit milder Überraschung. »Ich dachte, du wärst vielleicht Angie, die zurückkommt. Setz dich und trink einen Kaffee mit mir.«
»Danke«, erwiderte Dare, denn er lehnte aus Prinzip keinen Kaffee ab. Er wusste nie, wann er die nächste Tasse bekommen würde, und er hatte schon so oft auf Kaffee verzichten müssen, dass er ihn noch immer nicht als selbstverständlich hinnahm. Also ging er zur Kaffeekanne und schenkte erst sich und dann Harlan eine Tasse ein. »Schwarz, weiß, süß?«
»Schwarz und süß.«
»Wie viele?«
»Zwei.«
Dare gab zwei Löffel voll Zucker in den Kaffee, rührte schnell um und reichte sie dann Harlan. Er warf seine hochgewachsene Gestalt auf einen der vier Besucherstühle, die Harlan – optimistisch – im Büro aufgestellt hatte. »Angie hat mir gerade erzählt, dass sie ihr Haus verkaufen will«, begann er schroff. Seiner Meinung nach war mit dem Kaffeeritual der Höflichkeit Genüge getan. »Was will sie dafür haben?«
3
Angie starrte nach vorn durch die Windschutzscheibe, die Hände um das Lenkrad gekrallt. Ihre Augen brannten, aber sie weigerte sich zu weinen. Sie war ohnehin keine Heulsuse; der einzige völlige Zusammenbruch in ihrem Leben, an den sie sich erinnern konnte, war ihre Hochzeit gewesen, auf der sie sich zum Narren gemacht hatte. Wenn sie den Zusammenbruch nicht gehabt hätte, wäre es ihr auch nicht so peinlich gewesen, daher war Heulen für sie nicht nur reine Zeitverschwendung, sondern öffnete auch allen möglichen schlechten Folgen Tür und Tor.
Sie würde ohnehin nicht wegen Dare Callahan weinen. Es gab nichts, worüber sie hätte weinen müssen. Sie hatten schließlich keine Beziehung, keine andere Verbindung als die, dass sie Konkurrenten waren, und das würde ihm ganz sicher keine Sympathiepunkte einbringen. Nein, wenn sie wegen irgendetwas heulen könnte, dann war es der Verkauf ihres Hauses. Sie war dort aufgewachsen. Ihr Dad hatte es hier im Westen Montanas geliebt, hatte die Menschen und seine Arbeit geliebt; sein Grab war hier. Diesen Ort zu verlassen kam ihr so vor, als würde sie ihn verlassen.
Auf keinen Fall. Sie musste zwar umziehen, aber sie schwor sich in diesem Moment, dass sie mindestens einmal im Jahr zurückkäme, wenn möglich häufiger, um sich um sein Grab zu kümmern und Blumen niederzulegen, sogar um mit ihm zu reden, so, als könnte er sie hören. Liebe verschwand nicht, wenn jemand starb, und sie würde ihn auf jeden Fall für den Rest ihres Lebens ehren. Er war ein guter Mann gewesen, und er hatte sich ganz ihrer Erziehung gewidmet, nachdem ihre Mutter sie beide wegen so einem schmierigen Typen verlassen hatte. Das war geschehen, als Angie fast zwei gewesen war.
Ihr Dad hatte ihr gereicht. Sie wusste nicht, wo ihre Mutter war, ob sie überhaupt noch lebte, und es interessierte sie ehrlich gesagt auch nicht. Sie hatte den Namen ihrer Mutter nie gegoogelt und sich auch nie die Mühe gemacht, einen Profi anzuheuern, der nach ihr hätte suchen sollen. Angies Dad war für sie da gewesen, hatte sie großgezogen, sie geliebt und ihr nichts als Verständnis und Trost geschenkt, als ihre Hochzeit schiefgegangen war. Sie konnte jetzt nichts mehr für ihn tun, außer ihn im Tod zu ehren, und darum würde sie, solange sie lebte und körperlich dazu in der Lage war, sein Grab pflegen.
»So wahr mir Gott helfe«, sagte sie laut und fühlte sich ein wenig besser, da es durch das Aussprechen allein irgendwie feierlich vollzogen wurde, als hätte sie einen Vertrag unterschrieben. Sie brach nicht alle Verbindungen hinter sich ab. Sie würde woanders leben, und irgendwann würde dieser neue Ort genauso zu ihrem Zuhause werden wie ihr Apartment in Billings, nachdem sie eine Weile dort gelebt hatte. Anpassungsfähig zu sein bedeutete nicht, dass sie das Andenken an ihren Vater aufgab.
Der Gedanke an ihren Dad machte ihr klar, dass sie sich jetzt auf die beiden Kunden konzentrieren sollte, die übermorgen kommen würden. Einer von ihnen, Chad Krugman, war ein Wiederholungskunde, aber er hätte auch jemand Neues sein können, denn sie konnte sich kaum an ihn erinnern, außer, dass er insgesamt ziemlich
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