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Lauf, wenn es dunkel wird

Lauf, wenn es dunkel wird

Titel: Lauf, wenn es dunkel wird Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: April Henry
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Cheyenne, dass sie aus Holz bestanden und nicht gefliest oder aus Linoleum waren. Sie schlurfte, damit sie den Widerhall von den Wänden hören konnte. Die Räume klangen klein.
    Sie hätte ihre Hände gerne frei gehabt, damit sie ihren Bauch schützen konnte. Ständig stieß sie mit ihren Schienbeinen, Knien und ihrem Unterleib an Möbel und andere unbekannte Hindernisse. Manchmal konnte sie Dinge, die vor ihr lagen, fühlen, aber so wie Griffin sie weiterdrängte, blieb ihr dafür keine Zeit. Ihr Körper kartografierte das Haus schon nach blauen Flecken. Wenn Phantom bloß da wäre. Griffin führte sie ziemlich schlecht.
    Griffin. Sie hielt seinen Namen ganz fest, wie ein Geschenk. Er hieß Griffin. Es gab jemanden an ihrer Schule, der so hieß, einen Zwölftklässler. Aber der Name war nicht sehr gebräuchlich. Wenn sie sich erst einmal befreit hätte - und sie würde sich befreien, sie musste einfach -, könnte sein Name genau der Hinweis sein, den die Polizei brauchte, um ihn und seine Familie zu finden und alle wegzusperren.
    Dann wäre Griffin derjenige, der mit auf dem Rücken zusammengebundenen Händen vor sich hin stolpern würde.
    Und dann gab es noch Griffins Dad. Was für ein Vater fand, dass es in Ordnung ist, wenn sein Kind unterwegs Autos klaute? Einer der beiden anderen Männer hatte seinen Namen gesagt, bevor sie gingen. Ray? Nein, Roy, so hieß er. Glaubte sie zumindest.
    Alle Geheimnisse, an die sie kam, würde sie für sich behalten, beschloss Cheyenne. Vielleicht, ganz vielleicht, könnte sie sie in Waffen verwandeln. Ihre Blindheit zum Beispiel. Viele Blinde waren nicht vollkommen blind. Auch sie nicht. Ein bisschen konnte sie mit ihrem linken Auge sehen, und Griffin hatte davon keine Ahnung.
    Die Ärzte hatten das, was ihr passiert war, eine Contrecoup-Verletzung genannt. Der Schlag hatte sie an ihrer Stirn getroffen, aber der Schaden war entstanden, als ihr Gehirn vom hinteren Teil des Schädels abgeprallt war.
    Sogar jetzt noch, drei Jahre später, erinnerte sich Cheyenne an Gesprächsfetzen der Ärzte, als sie um ihr Bett gestanden hatten. Ihr Dad hatte bei ihr gesessen und geweint. Cheyenne hatte einen Schlauch im Hals gehabt, konnte also nicht sprechen. Es gab noch mehr Schläuche. In ihrer Nase und an ihren Armen. Sie hatte ihre Augen geschlossen gelassen und so getan, als würde sie schlafen, während die Ärzte erklärten, was für Verletzungen sie hatte und was sie bedeuteten.
    »Verletzung am Occipitallappen«, »Schädigung des visuellen Kortex«, »Das Gefäßsystem im hinteren Teil des Hirns ist vernichtet«.
    Das hieß, dass ihr zentrales Sehvermögen - der Teil, in dem der hundertprozentige Schärfebereich lag und von dem die meisten Leute als Sehen sprachen - nicht mehr existierte. Ihr peripheres Sehvermögen existierte größtenteils auch nicht mehr. Ihr war lediglich ganz links außen ein Zehn-Grad-Schlitz ihres alten Gesichtsfeldes übrig geblieben. Aber das Problem mit dem peripheren Sehen war, dass die Sehschärfe nicht mehr 100 Prozent betrug, sondern nur noch zehn. So wie jeder am Rand seines Gesichtsfelds sah, nur dass das niemand wusste. Menschen können nur das scharf sehen, was sie fokussieren, und nicht das, was an den Rändern liegt. Das, was normale Leute auf sechzig Meter Entfernung erkennen konnten, sah Cheyenne bei einer Entfernung von sechs Metern - und auch das nur als kleinen Ausschnitt.
    Sie konnte bloß ein wenig Farben und Formen unterscheiden, was meistens eher verstörend war als hilfreich. Wenn sie jetzt überhaupt noch irgendetwas sehen wollte, musste sie den Kopf davon wegdrehen. Es kam ihr vor wie eine Metapher, aber Cheyenne wusste nicht wofür.
    Wenn sie sich auf diesen Rest ihres Sehvermögens konzentrierte, brachte es ihr nur Kopfschmerzen und nichts wirklich Brauchbares. Häufig schloss sie einfach die Augen oder setzte eine Sonnenbrille auf, weil die anderen sich so wohler fühlten. Sie mochten sich nicht mit jemandem unterhalten, der ihnen vielleicht oder vielleicht auch nicht genau in die Augen sah.
    Der Klang ihrer Schritte veränderte sich. Es war noch enger geworden. Ein Flur. Es war kalt hier. Sie spürte, wie Griffin sich an ihr vorbeibeugte. Eine Tür öffnete sich knarrend. Griffin schubste sie weiter. Als sie drinnen waren, legte er seine Hände auf ihre Schulter und drehte sie zu sich.
    »Setz dich. Da hinter dir steht ein Bett.«
    Ein Bett. Die Vorstellung machte sie nervös. Vielleicht machte es Griffin ja auch nervös, seine

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