Lauf, wenn es dunkel wird
keine Ahnung davon hatte. Man konnte glotzen, so lange man wollte, ohne Angst, dabei ertappt zu werden. Obwohl, wenn Cheyenne ihm nicht gesagt hätte, dass sie blind war, hätte er es wahrscheinlich nicht gemerkt. Wenn er redete, sah es so aus, als würde sie ihn direkt ansehen. Schon möglich, dass ihr rechtes Auge ein bisschen wegrutschte, aber das war dann auch alles. Sie hatte wunderschöne Augen, so dunkel, ganz Pupille.
Es war einfacher über ihre Blindheit nachzudenken als darüber, was er nun tun sollte. Wenn das Leben nur wie einer dieser Computer in seiner alten Schule wäre! Dann könnte er mit ein paar Klicks alles wiederherstellen, so wie es fünf Minuten vor dem Augenblick gewesen war, als er die Schlüssel gesehen hatte, die im Zündschloss des Escalades baumelten. Stattdessen hatte er eine unbesonnene Entscheidung nach der anderen gefällt und steckte jetzt in den Folgen fest.
Griffin zündete die Zigarette an, die er vorhin wegen Cheyenne wieder weggesteckt hatte. Er konnte das Radio aus der Scheune hören. Der Schall schwebte durch die kühle Luft. TJ und Jimbo hörten, warum auch immer, gerne diesen rechten Talkshow-Moderator, der ständig über illegale Einwanderer, die Krankenversicherung und Schwule herzog. Griffin fand es fast lustig, wie sie ihm jedes Mal zustimmten und »Verdammt genau!« sagten, wo sie doch selbst zu den Typen gehörten, die der Radiomoderator wahrscheinlich, ohne zu zögern, eigenhändig aufgeknüpft hätte.
Unter seinen Füßen knackten vereiste Pfützen. Es hatte noch nicht geschneit, aber es würde bestimmt bald anfangen. Griffin mochte, wie der Schnee seine weiße Decke über alles legte und die Kanten weicher werden ließ. Zum Beispiel über die Überreste eines Autos - einem Honda, der um seine Reifen, Türbleche, Sitze und seine Anlage erleichtert worden war. Die Überreste lagen genau in der Mitte zwischen Haus und Scheune. Von Schnee bedeckt würden sie zu einer wunderschönen abstrakten Skulptur.
Sein Vater hatte den Escalade in die Scheune gebracht und inspizierte ihn nun von allen Seiten. Der Geländewagen war grün. Er hatte weniger als 15.000 Meilen runter. Der Diebstahl wäre ein echter Wurf gewesen. Es hätte seinem Vater gezeigt, dass er bei den Profis mitspielen konnte - wenn Cheyenne nicht auf dem Rücksitz gelegen hätte. Aber das war ein ziemlich großes Wenn.
»Änderst du die FINs?«, fragte Griffin. Die FIN - die Fahrzeugidentifikationsnummer - ist an verschiedenen Stellen in allen Autos angebracht. Im Grunde ist sie der Fingerabdruck des Autos. Aber man konnte die FIN von einem abgewrackten Auto für einen gestohlenen Wagen nehmen und so den Fingerabdruck eines gesuchten Autos mit einem sauberen austauschen.
Roy strich mit dem Daumen über seine Lippe. »Ich weiß nicht. Ist wahrscheinlich noch zu heiß dafür. Ich glaube, wir sollten einfach nur kurz ein paar neue Schilder draufklatschen, und dann kannst du ihn oben in Washington loswerden, im Wald oder so. Du könntest das alte Moped in den Kofferraum schmeißen, und wenn du da bist, schraubst du die alten Schilder drauf, verwischst alle Spuren und nimmst das Moped für den Rückweg. Lass ihn irgendwo, wo ihn niemand bis zum nächsten Frühjahr findet.«
»Wir könnten ganz leicht fünfzehn Riesen für ihn bekommen«, protestierte Griffin.
»Wir könnten ganz leicht fünfzehn Jahre für ihn bekommen.« Roys Stimme war schärfer geworden. »In Oregon gibt es eine Mindeststrafe für Entführungen und keinen Strafnachlass. Wenn irgendjemand rausfindet, dass wir damit was zu tun haben, stecken wir so was von in der Scheiße.« Sein Zorn war zurückgekommen, so wie Griffin es vorausgesehen hatte. »Und was zum Teufel willst du jetzt mit dem Mädchen anstellen?«
Sie lebten zwar schon lange jenseits des Gesetzes, aber es waren immer nur Eigentumsdelikte gewesen. Die Leute hier in der Gegend wussten wahrscheinlich, dass Roy eine seltsame kleine Karosseriewerkstatt führte. Aber hier draußen wurde nicht danach gefragt, warum sie nicht in den Gelben Seiten standen, kein Reklameschild hatten oder warum sie keine Laufkundschaft empfingen.
»Sie kann uns doch noch nicht mal sehen«, sagte Griffin. »Also kann sie auch niemandem erzählen, wie wir aussehen. Sie weiß nicht, wie wir heißen. Sie hat keinen Schimmer, wo wir sind. Wir können das Auto behalten und die Nummernschilder und FINs austauschen. Und heute Nacht fahr ich sie irgendwo in die Pampa und schmeiß sie raus. Bis sie gefunden wird,
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