Laura, Leo, Luca und ich
zwischen Rutsche und Kletterturm, existieren ungeschriebene Regeln.
Erstens:
Lobe allzeit den Nachwuchs aller anderen. Mag auch der Rotzlöffel, der sich meiner Tochter nähert, ein Bösewicht sein, der allen das Spielzeug klaut, aus purer Gemeinheit andere von der Schaukel schubst und Probleme mit dem Speichelfluss hat: Finde ein paar nette Worte über seine Locken oder sein verschmitztes Lächeln, und Mama wird glücklich sein. Egal, ob ein Kind schielt, sabbert oder stottert: Es ist immer süß, entzückend oder goldig. Eltern versichern sich das gegenseitig wie ein Mantra. Und wie bei den echten Mantras entsteht auch hier eine innige, tief spirituelle Verbundenheit.
Zweitens:
Lasse nie nach in deinem Enthusiasmus. Kleine Kinder – Entschuldigung, aber ich glaube, es geht allen Eltern so, nur traut es sich keiner zuzugeben – sind … Nun ja, wie sag ich das charmant?, mitunter ein wenig langweilig. Kein noch so stolzer Vater kann mir erzählen, dass er beim 400. Mal ›Findet |177| Nemo‹ im Videorekorder seinem Kind mit dem gleichen Brustton der Überzeugung versichert, dass die Mama von Nemo ganz bestimmt nur schläft (frühere Elterngenerationen hatten das gleiche Problem mit der toten Mutter von Bambi). Auf Kinderspielplätzen ist das ähnlich. Natürlich freut es mich, wie meine Tochter lachend die Rutsche hinuntergleitet; da ich sie aber immer selbst nach oben heben muss, finde ich es nach fünfunddreißig Malen belastend, vor allem für meine Rückenwirbel Nummer sechs und sieben. Dennoch: Sie will meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Bald wirkt mein Lächeln wie schockgefrostet. Aber egal.
Drittens:
Kenne die magischen Worte. Die Sätze, mit denen man ganze Wochen auf den Spielplätzen bestreiten kann, lauten: »Wie alt bist du denn?«, »Gehst du schon zur Schule?« und zur Mama: »Schläft Ihrer auch so schlecht?« Und dann ist man mit der Mutter sofort ins schönste Gespräch verwickelt, bald tauscht man Namen, Telefonnummern und Kochrezepte aus. In Grado gibt es zwei konkurrierende Kindergärten, und über die Frage, welcher davon der bessere sei, lässt sich stundenlang debattieren. Man scherzt, gibt sich charmant, alles läuft auf ganz harmloser Ebene ab, schließlich sind die Kinder dabei. Dennoch sollte man die wichtigste Regel im Hinterkopf behalten.
Viertens:
Wenn die Väter kommen, verzieh dich. Vor allem die mit den Muskelshirts und den tätowierten Unterarmen.
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Die Gang der
Gelben Sonnenschirme
D er Standort des eigenen Sonnenschirms am Strand ist eine brisante Sache. Während viele, mich eingeschlossen, es doch höchst bedenklich fänden, die nächsten 35 Sommer ihres Lebens neben exakt den gleichen Personen zu verbringen, ist der Italiener ein Philanthrop. Minnie hat seit fast vier Jahrzehnten denselben Sonnenschirm und dieselbe Kabine am Strand: Nummer 84a. Die Nachbarn sind seit etwa der gleichen Zeit dabei. Plätze werden von Generation zu Generation weitergegeben, denn je niedriger die Nummer, desto prestigereicher die Kabine, denn desto näher befindet sie sich am Ortszentrum. Mario (der Steuerberater mit der Harpune) liegt direkt neben uns, und Minnie kennt ihn, da war er noch nicht stubenrein. Die Sonnenschirme stehen je nach Strandbreite sieben bis zehn Reihen tief und wechseln zur besseren Orientierung alle zehn Längsreihen die Farbe. Minnie gehört zur Gang der Gelben Sonnenschirme. Damit sind etwa zwei Dutzend Familien gemeint, die sich diesen |179| Strandabschnitt untertan gemacht haben wie der Clan eines Diktators ein Dritteweltland. Mit großen Kühlboxen wird das Terrain gegen Eindringlinge abgesteckt, dann gehen die Tageszeitungen reihum. Mittags wird ein Stündchen geschlafen, nachmittags rottet man sich unter einem der Schirme zusammen und spielt Karten. Kinder jeglichen Alters und Geschlechts sind hier perfekt aufgehoben, und interessanterweise machen sie offenbar auch die ersten erotischen Erfahrungen innerhalb dieser Gruppe. Abends geht man dann zu einer der Familien essen, jede ist mal dran. Das führt zu einer mitunter anstrengenden sozialen Leistungsschau, und der Einfallsreichste von allen ist Alfredo, der im letzten Jahr nicht nur ein Abendessen, sondern gleich ein ganzes Golfturnier mit anschließendem Hummermenü auf die Beine stellte.
Jedes Jahr im Januar macht die Strandverwaltung für eine Woche ihre Büros auf, so dass Frühbucher für den Sommer ihre Lieblingskabine des Vorjahres erneut reservieren können. Keiner der
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