Lauras Bildnis
starrte vor sich hin. In größeren Zeitabständen ließ er den Blick jedoch durch den Raum schweifen, als wolle er so das Reisen üben. Es war immer das gleiche Bild. Die überschminkten Gesichter der Prostituierten an der Theke im Spiegel hinter der Bar zwischen lauter Flaschen wie schädellose Gummimasken. Auf den Bänken fast nur Männer in allen Stadien der Trunkenheit. Viele Stimmen laut und aggressiv, aber das störte ihn nicht. Er fühlte sich geborgen in seiner selbsterschaffenen Leere.
Sie hielt auch an, als er im Nachtzug saß. Er war in einem nicht unangenehmen Zustand zwischen Schlafen und Wachen.
Um die Mittagszeit des nächsten Tages kam er an. Das Gefühl, durch die Stadt zu laufen, einen Ort, den er noch am ehesten mit Heimat bezeichnen würde, war sehr merkwürdig.
Er machte einen Umweg über Australien. Zufällig kam er durch den Park mit Hermes und Aphrodite. Einen Augenblick lang ließ er sich mit klopfendem Herzen auf der Bank nieder.
Sollte er zuerst nach Hause oder in Lauras Wohnung gehen? Es war die alte Frage, und sie war lebenswichtig, wie ihm schien. Dann fiel ihm ein, daß Laura ja kein Stipendium mehr hatte und auch kein Wohnrecht mehr in dem Appartement. Wie konnte er das nur vergessen!
Er stellte seine Reisetasche ab und setzte sich auf einen niedrigen Mauersims. Es war bei dem kleinen Laden, wo Laura und er früher einzukaufen pflegten. Hier, auf dem Mäuerchen, saßen auch die Penner und holten ab und zu neue Flaschen aus dem Laden, die zu leeren für sie der einzig verbliebene Garant dafür war, daß die Zeit noch verstrich. Sie begrüßten ihn freundlich, nickten ihm zu mit ihren roten Alkoholikergesichtern. Einer reichte ihm die Bierflasche, die er an den Mund setzte, ohne sie vorher mit dem Ärmel abzuwischen. Hatte er sich so verändert, daß sie ihn bereits als einen der ihren ansahen? Es stimmte, er hatte die Gesichtsfarbe eines Menschen, der kein Obdach hat.
Er bedankte sich und legte die letzten Schritte zu seiner Wohnung zurück. Er ging langsam die Treppe hoch und schloß auf. Es roch muffig, wie in der Wohnung von Bazin. Altmännergeruch, Sterbezimmer, dachte er. Er öffnete die Fensterflügel weit und lehnte sich hinaus. Der Himmel war grau. Alles wirkte seltsam bedrückt und bleiern. Es war genauso ein Wetter wie damals an dem Tag, an dem er Laura zum erstenmal gesehen hatte.
Er griff zum Telefon. Sollte er anrufen? So tun, als riefe er aus dem Ausland an? Er wählte die Nummer seiner Frau. »Ich komme gerade aus der Schule«, sagte sie, »und koche mir eine Kleinigkeit.« Es war, als wäre nie etwas geschehen. Diesen Satz hatte sie früher immer gesagt, wenn er um diese Zeit anrief. »Wie geht es dir?« fragte er. »Nicht schlecht. Ich habe einen Freund. Nichts für ewig, aber es tut gut. Und du?«»Ach«, sagte er und legte auf.
Er ging hinüber in den Park der Kunstschule. Die Fenster zu seiner Werkstatt kamen ihm noch blinder vor von Staub. Das Unkraut zwischen den Verbundsteinen des Innenhofes war gewachsen. »Ein gutes Revier für Bazin«, dachte er. Dann sah er, daß sich die Tür des Appartements öffnete. Wie in einem Traum erschien sie mit einem Stuhl in der Hand. Sie setzte sich in die Nähe der Mülltonnen und begann, in einem Buch zu lesen. Sie trug eine kurzärmlige Bluse mit aufgedruckten Rosen. Ihre Haare waren länger geworden. Er sah, wie sie sich beim Umblättern bewegte. Er sah, wie sehr er sie immer noch liebte.
Als sie ihn bemerkte, erhob sie sich und kam zu ihm. Langsam, wie ihm schien, und vollkommen unaufgeregt. Sie legte das Buch ab und schlang ihre Arme um seinen Hals. Sie legte ihre Stirn gegen seine und flüsterte: »Es gibt merkwürdige Dinge auf der Welt.« Sie preßte den Kopf zurück und sah ihn lächelnd an. »Was meinst du damit, Laura? Was meinst du mit merkwürdigen Dingen?«
»Zum Beispiel die Welt selbst.«
Er blickte sie unsicher und ein wenig mißtrauisch an, während er sie vorsichtig und unbeholfen streichelte. Wie immer war es ihm unmöglich, ihren Gesichtsausdruck zu deuten. Scherzte sie? Meinte sie es ernst? Gab es diesen Unterschied überhaupt für sie?
»Laura, das klingt hübsch, was du sagst. Aber die Welt ist kein Ding, das auf der Welt ist. Sie ist die Welt selbst.«
Sie näherte wieder ihre Stirn und verstärkte den Druck ihrer Arme in seinem Nacken. »Es gibt noch andere merkwürdige Dinge auf der Welt außer der Welt«, fuhr sie fort. »Zum Beispiel, daß du so lange weg warst und dennoch die ganze Zeit
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