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Lauter Irre

Lauter Irre

Titel: Lauter Irre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Sharp
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zwar hauptsächlich, wie ungemein männlich sie ihren Gatten in dem Moment fand. Während sie die verunstaltete Wand betrachtete, fragte sie sich unwillkürlich, ob Horace sich vielleicht überreden lassen würde, die bis zum heutigen Tage weitgehend ungetragene Lederhose anzuprobieren, die sie ihm als Hochzeitsgeschenk gekauft hatte. Alles in allem hätte es möglicherweise auch etwas Gutes, dass der neuerdings laute Esmond nicht länger herumlungerte.

4
     
    Zu Veras Pech war der Moment, als Horace endlich durchgriff, genau das: ein Moment. Im Handumdrehen war er wieder so ängstlich wie eh und je. Sicher war sie mit dafür verantwortlich, dass Esmond mit anscheinend sinnloser Zerstörungswut auf alles annähernd Künstlerische oder auch nur Empfindsame reagierte, doch der Einfluss seines Vaters erwies sich während der nächsten paar Jahre als kaum weniger verderblich.
    Mr. Wileys Beruf trug zweifellos zu seinem altmodischen Beharren darauf bei, dass zwei und zwei unabänderlich vier ergeben musste, dass Bücher korrekt zu führen seien und dass Geld nicht auf Bäumen wachse, sondern verdient und zinsgünstig angelegt werden müsse. Und dass der zweite Hauptsatz der Thermodynamik nicht nur für die Physik wichtig, sondern auch auf Menschen anwendbar sei. Oder, wie er es eines schwülen Nachmittags Esmond gegenüber ausdrückte, als Vater und Sohn sehr gegen ihren Willen auf einen »hübschen« Spaziergang durch Croham Hurst geschickt worden waren: »Wärme strömt immer von etwas Heißem zu etwas Kaltem, nie umgekehrt. Ist das klar?«
    »Du meinst, etwas, das kalt ist, wie zum Beispiel ein Eiswürfel, kann nie eine Gasflamme wärmen?«, fragte Esmond und überraschte seinen Vater einigermaßen mit seinem Scharfsinn. Horace selbst hatte das niemals in derart offensichtliche Begriffe gefasst.
    »Genau. Sehr gut. Also, mit Geld ist es genauso. Das Gesetz der Thermodynamik trifft auch auf das Bankwesen zu. Geld fließt immer von denen, die es haben, zu denen, die es nicht haben.«
    Unter den Birken auf der Kuppe von Breakneck Hill blieb Esmond stehen.
    »Das verstehe ich nicht«, sagte er. »Wenn die Reichen den Armen andauernd Geld geben, wieso bleiben die Armen dann arm?«
    »Weil sie das Geld ausgeben natürlich«, erwiderte Horace gereizt.
    »Aber wenn die Reichen ihr Geld weggeben, können sie es doch nicht behalten – und wenn sie es nicht behalten, können sie nicht reich bleiben«, wandte Esmond ein.
    Mr. Wiley schaute sehnsüchtig zu einem Golfspieler in der Ferne hinüber und seufzte. Er spielte nicht Golf, doch er wünschte sich, er hätte damit angefangen. Das Verlangen, irgendetwas zu schlagen, war fast überwältigend, und ein kleiner weißer Ball hätte vielleicht als hinlänglicher Ersatz für seinen Sohn herhalten können. Er widerstand dem Impuls und tat sein Bestes, Esmond freundlich lächelnd zu antworten. Nicht, dass er den leisesten Schimmer hatte, was er sagen sollte. Ein Bibelspruch, an den er sich schwach erinnerte, rettete ihn.
    »›Arme habt ihr allezeit bei euch‹«, zitierte er.
    »Warum haben wir Arme allezeit bei uns?«
    Mr. Wiley versuchte, sich einen guten Grund dafür auszudenken. Er hatte sich bisher nie näher mit dem Spruch befasst. Das war nicht notwendig gewesen. Die Armen bedurften seiner Dienste als Filialleiter nicht. Und der einzige Mensch im Viertel der Wileys, den man als nicht wirklich betucht beschreiben könnte, war die alte Mrs. Rugg, die Putzfrau, die zweimal in der Woche kam, um staubzusaugen und die mühsamere Hausarbeit zu erledigen, und ihm für dieses Privileg fünf Pfund die Stunde abknöpfte. Mr. Wiley fand nicht, dass man so jemanden als arm bezeichnen konnte. Wie dem auch sei, nachdem er einmal damit angefangen hatte, konnte er nun nicht kneifen.
    »Arme habt ihr allezeit bei euch«, verkündete er, jäh inspiriert, »weil sie nicht sparen. Sie geben alles, was sie verdienen, sofort aus, sobald sie es bekommen, und natürlich bekommen die Reichen, die viel klüger sind – deshalb sind sie überhaupt erst reich geworden –, ihr Geld zurück. Es ist ein Kreislauf und beweist, dass ich recht habe. Und jetzt gehe ich nach Hause zum Tee.«
    Aus derart ergebnislosen Diskussionen über den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik und einen ganzen Haufen anderer Themen bezog der junge Esmond ein Gefühl der Gewissheit. Tatsächlich war es weniger ein Gefühl der Gewissheit als vielmehr die Überzeugung, dass, wenngleich er niemals verstehen würde, warum manche Dinge

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