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Lauter Irre

Lauter Irre

Titel: Lauter Irre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Sharp
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zu tun gedenke, wenn er in Rente ginge. An diesem Abend hatte Mr. Wiley statt der üblichen zwei sechs doppelte Scotch intus, als er aus dem Gibbet & Goose heimkehrte.
    »Natürlich bin ich betrunken«, sagte er unter einigen Schwierigkeiten zu seiner Frau, als diese ihm Vorwürfe machte. »Und wenn du dich mit meinen Augen sehen könntest, würdest du dich auch betrinken.«
    Mrs. Wiley war verständlicherweise aufgebracht.
    »Untersteh dich, so mit mir zu reden!«, schrie sie. »Du hast mich geheiratet und versprochen, mich zu ehren, in guten wie in schlechten Tagen. Schließlich ist es nicht meine Schuld, dass ich nicht mehr so schön bin wie früher.«
    »Das ist wahr, sehr wahr«, stellte Horace fest, dem diese Bemerkung merkwürdig vorkam. Er hatte sie nie schön gefunden, daher konnte er nicht verstehen, warum sie dieses Thema jetzt zur Sprache brachte. Ehe er das Rätsel lösen und einen Küchenstuhl finden konnte, um daraufzusacken, keifte sie weiter.
    »Du solltest dich mal sehen«, fauchte sie.
    Horace starrte sie unverwandt an und versuchte, seine Augen scharfzustellen. Sie schien zweimal vorhanden zu sein.
    »Das tue ich doch. Andauernd«, nuschelte er und strebte auf den Stuhl zu. »Es ist unerträglich. Es ist furchtbar. Ich kann gar nicht anders, als mich sehen. Ich … er ist immer da. Ständig verdammt noch mal da.«
    Jetzt war seine Frau an der Reihe, ihn anzustarren. Sie war den Umgang mit Betrunkenen nicht gewöhnt, und bisher hatte sie Horace niemals anders erlebt als leicht angeheitert. Dass er in diesem Zustand nach Hause kam, nur um sie zu beleidigen und dann anzufangen, auf einem Küchenstuhl zusammengesunken von sich selbst in der dritten Person zu sprechen, deutete auf mehr hin als lediglich Trunkenheit. Irgendeine Krankheit ging ihr kurz durch den Sinn, vielleicht sogar Demenz, ehe ihr ein Hauch von Scotch entgegenschlug, eine veritable Fahne, während Horace sich mit aschfahlem Gesicht auf die Beine mühte.
    »Da ist es schon wieder«, schrie er und starrte mit irrem Blick an ihr vorbei zur Küchentür. »Jetzt gibt es mich zweimal. Was macht der da in meinem Pyjama?«
    Beklommen warf Mrs. Wiley einen Blick über die Schulter. Jetzt ging ihr Delirium tremens durch den Sinn. Vielleicht war Horace ein heimlicher Trinker gewesen, und der Alkohol war ihm schließlich zum Verhängnis geworden und machte ihn wahnsinnig. Doch es war nur Esmond, der dort lungerte. Ehe sie Horace auf diese scheinbar offensichtliche Tatsache hinweisen konnte, legte dieser von Neuem los.
    »›Fort, verdammter Fleck, fort, sag ich!‹«, brüllte er, wobei sich die Überdosis Scotch augenscheinlich mit der lebhaften Erinnerung an einen Schulausflug ins Old Vic Theatre vermengte. »›Eins, zwei! Nun, dann ist es Zeit, es zu tun. Die Hölle ist finster!‹«
    Horace griff nach einem Küchenmesser, torkelte sturztrunken auf seinen Sohn zu, stieß nach ihm und fiel platt auf den Bauch.
    »Was ist denn mit Dad los?«, fragte Esmond, während Vera neben Horace niederkniete und das Messer an sich nahm.
    »Er ist nicht er selbst«, antwortete sie. »Oder er scheint zu denken, jemand anders ist er selbst. Los, Esmond, hilf mir mit deinem Dad, bevor ich einen Krankenwagen rufe.«
    Gemeinsam schleiften sie Horace die Treppe hinauf und steckten ihn ins Bett. Mittlerweile hatte Vera beschlossen, doch nicht den Arzt zu rufen. Stattdessen rief sie ihren Bruder Albert an, der sagte, er würde morgen früh vorbeikommen.
    »Aber ich brauche dich jetzt gleich«, beharrte Vera. »Horace hat gerade versucht, Esmond zu erstechen. Er hat den Verstand verloren.«
    Albert behielt seine Ansichten über den Geisteszustand seines Schwagers für sich und legte auf. Er war selbst jenseits des zulässigen Alkohollimits und hatte nicht die Absicht, seinen Führerschein zu verlieren, nur weil Horace Wiley das versucht hatte, was jeder klar denkende Vater schon vor Jahren getan hätte.

6
     
    Und während Horace Wiley in betrunkenem Schlummer der Folter seines Familienlebens entfloh, verbrachte seine Frau eine schlaflose Nacht und versuchte, sich mit der Erkenntnis abzufinden, dass ihr Mann wahnsinnig war und dass er seine Stelle in der Bank verlieren und sein Leben im Irrenhaus beenden würde, worüber dann sämtliche Nachbarn Bescheid wüssten. Diese Kombination grauenvoller Resultate ließ sie zu einer sogar noch melodramatischeren Schlussfolgerung gelangen: dass es Horace vielleicht tatsächlich gelingen könnte, ihren geliebten Sohn zu

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