Lauter Irre
so waren, wie sie waren, ihnen doch etwas Unumstößliches und Unveränderliches zu eigen war und man deshalb gar nicht alles zu verstehen brauchte.
Eigentlich war dies eine durchaus tröstliche Schlussfolgerung. Besonders für einen Heranwachsenden, der nicht nur mit seinem eigenen, sehr zaghaften sexuellen Erwachen zu kämpfen hatte, sondern auch mit dem Spott der anderen Jungen und – noch schlimmer – der Mädchen. Sie machten sich über seinen Namen lustig, über seine Ohren, sein komisches Aussehen und seinen nicht ganz abgelegten Hang zum Lungern, ganz besonders unter Stress. Die Gewaltbereitschaft, die diese Verachtung in Esmond weckte, war vorübergehend durch sein wildes Getrommel und jene verhängnisvollen Klavierstunden gelindert worden, doch diese Zuflucht war ihm jetzt verwehrt.
Da Esmonds derbe Kritzeleien an der Wand der Gästetoilette keine bleibende Wirkung auf die beklagenswert rührseligen Gefühle hatten, die seine Mutter für ihn hegte und die sie so häufig und in solcher Ausführlichkeit in aller Öffentlichkeit kundtat, war ihm bei der Aussicht auf eine Welt, wo es weitgehend unnötig war, zu verstehen, warum die Dinge so waren, wie sie waren, irgendwie wohler.
Und so kam es, dass Esmond Wiley, der zwischen der unerträglichen Liebe seiner Mutter und den eher nachvollziehbaren, schlichten und unabänderlichen Ansichten seines Vaters zu so ziemlich allem und jedem wählen musste, gedachte, sich Letzteren zum Vorbild zu nehmen. Da im Falle der gesamten Familie keinerlei Betonung auf dem Wort »Denken« lag, war sein Versuch zum Scheitern verurteilt.
5
In Horace Wiley war in den letzten Wochen eine leise Zuneigung zu seinem Sohn aufgekeimt – ein Junge, der es ihm möglich machte, eine derart wortgewaltige Ehefrau zum Schweigen zu bringen, selbst wenn dazu obszöne Zeichnungen in der Toilette im Erdgeschoss und die Kosten fürs Neuverputzen notwendig waren, konnte nicht wirklich schlecht sein.
Er verzieh ihm sogar das schreckliche Trommelgetöse. Immerhin hatte es Horace morgens früh vor dem eigentlichen Berufsverkehr aus dem Haus getrieben und ihm abends zu einer absolut legitimen Ausrede verholfen, sich im Gibbet & Goose mit ein paar doppelten Scotchs Mut zuzusprechen. Und jetzt, wo er es recht bedachte, waren auch der Besuch des Beamten von der Lärmschutzbehörde und die Drohung, angezeigt zu werden, gar nicht schlecht gewesen. Das hatte Veras Autorität gemindert, genau wie der Skandal um das »wachsende« Dingsda auf der Toilette und Mrs. Lumsdens Schilderung ihres dortigen Erlebnisses.
Kurz gesagt, Horace Wiley hatte begonnen, Esmonds destruktive Gaben zu schätzen, die so ganz anders waren als seine eigene vorsichtige und furchtsame Existenz. Seine frühere Abscheu vor dem Jungen, der in jeder Hinsicht sein Doppelgänger hätte sein können, wich einer neuen Warmherzigkeit seinem Sohn gegenüber, gepaart mit tiefer Bewunderung für seine Tatkraft.
Mr. Wileys neu entdeckte Zuneigung löste sich allerdings völlig in Luft auf, als diese frühen Anzeichen der Rebellion sich verflüchtigten und ein geläuterter Esmond stattdessen begann, sich abermals ein Beispiel an seinem Vater zu nehmen.
Er selbst zu sein war schon schlimm genug, und tatsächlich hatte Horace es stets als zutiefst deprimierende Erfahrung empfunden, jeden Morgen beim Rasieren das eigene Gesicht im Badezimmerspiegel betrachten zu müssen. Aber dann beim Frühstück von seinem Teller mit Haferbrei aufzublicken und eine jüngere Ausgabe seiner selbst vor sich zu sehen, eine fürchterliche Replik, die ihm gegenübersaß und sein Verhalten spiegelte, sogar genauso Haferbrei aß wie er, mit demselben Widerstreben – Vera beharrte darauf, Haferbrei sei das Gesündeste für sein Herz –, das machte ihm schwer zu schaffen.
Auch seiner Gesundheit tat es nicht gut, die ohnehin nie die beste gewesen war. Jedenfalls reagierte Horace Wileys Körper jetzt auf dieses Spiegelbild seines jugendlichen Selbst, durchströmt von sprießender Männlichkeit oder von so sprießender Männlichkeit, wie man es von einem angehenden Bankangestellten in Croydon eben erwarten konnte, indem er auf paradoxe Weise ins Greisenalter stürzte, wie um der Qual dieses unerwünschten Wiedererkennens zu entkommen.
Mit fünfundvierzig sah Horace Wiley aus wie sechzig, und ein Jahr später wie fünfundsechzig, so dass ein Kollege aus der Zentrale, der die Filiale in Croydon besuchte, sich allen Ernstes erkundigte, was Horace denn nächstes Jahr
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