Lauter reizende Menschen
ERSTES KAPITEL
In der Ferne grollte es dumpf. Aber Lucia hörte nichts; sie schlief ganz fest, und ihr dunkles Haar ergoß sich wie ein schwerer Vorhang über das Kopfkissen. Wieder erklang das Grollen, diesmal näher und lauter. Gleichzeitig ertönte draußen auf dem Flur ein jämmerliches Heulen. Lucia erwachte; sie setzte sich auf und starrte in die Finsternis. Wo war sie denn überhaupt? Und warum schwankte ihr Bett wie ein Kahn auf stürmischer See?
Laut klirrten die Fenster, und von neuem heulte es draußen, unmittelbar vor der Tür. Ach ja, der Hund! Undeutlich erinnerte sie sich an ihn. Aber was hatte er denn? Und was bedeutete das plötzliche Krachen in der Küche? Nur mühsam tauchte Lucia aus dem Schlaf, der sie nicht loslassen wollte. Aber endlich gelang es ihr doch, den Arm auszustrecken und die Nachttischlampe anzuknipsen.
Das Zimmer kam ihr nicht nur völlig fremd vor, sondern es benahm sich obendrein höchst seltsam. Die Lampe, die von der Decke herabhing, pendelte heftig hin und her, die Tür quietschte grell und fiel dann krachend ins Schloß. Sogar Onkel Peters Schreibtisch geriet in Bewegung: Er neigte sich so weit, daß Lucias Reisewecker ins Rutschen kam und polternd auf dem Fußboden landete.
Nun war’s aber genug! Den Wecker, ein Geschenk zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstage, hatte Lucia ganz besonders ins Herz geschlossen. Empört sprang das Mädchen auf, gerade als das Zimmer einen neuen heftigen Ruck tat. Gleichzeitig kam ein großer Hund unter dem Bett hervorgesprungen... Zu Tode erschrocken konnte Lucia nur noch alle viere von sich strecken, dann fiel sie zu Boden.
Noch im Stürzen aber sanken die letzten Wolken des Schlafs von ihr ab. Diese erste Nacht in Onkel Peters Haus neben der Tankstelle, die Lucia nun versorgen wollte, war wirklich einmalig schön! Sogar ein ausgewachsenes Erdbeben begrüßte sie — und ein riesenhafter Hund, der ihr nun mit stürmischen Zärtlichkeiten seine Zerknirschung zu beweisen suchte.
Noch ehe Lucia die ungewöhnliche Lage recht begriff, war das Erdbeben auch schon vorbei; der heftige Ruck soeben war das letzte Aufbäumen gewesen. Noch schaudernd streichelte Lucia den Hundekopf und versicherte ihm ein übers andere Mal: »Schon gut! Du hast mir ja nichts angetan! Nimm dich doch zusammen, um Gottes willen! Du wirst doch keine Angst vor dem Erdbeben haben?«
Das war pure Angabe, denn Lucia selbst verspürte eine ganz handfeste Angst. Dem Hund blieb das keineswegs verborgen, und tröstend leckte er ihr die Hand. Sofort erhob sich Lucia und befahl tapfer: »Leg dich wieder hin!« Sie selbst wollte in der Küche nachsehen, was für Schaden angerichtet war, sich eine Tasse Tee kochen und dem Hund einen Kuchen holen.
Die Uhr hatte den Sturz überstanden und zeigte Mitternacht. Ein paar Stunden hatte Lucia also bereits geschlafen, denn übermüdet von der langen Reise war sie heute beizeiten eingeschlummert. Und da die Tankstelle erst um acht Uhr morgens aufmachte, würde sie noch ausreichend Zeit zum Schlafen finden. Vorerst allerdings war ihr nicht danach zumute.
In der Küche erwartete sie ein jammervoller Anblick. Onkel Peters alter Radioapparat lag auf dem Fußboden und sah aus, als würde er nie mehr einen Laut von sich geben: Das Gehäuse war geborsten, und zahlreiche winzige Metallteile lagen verstreut herum. Betrübt betrachtete Lucia das Wrack. Sicherlich würde Onkel Peter traurig sein. Und auch ihr würde das Gerät fehlen: Lucia hatte das Gefühl, damit nun ganz und gar von der Außenwelt abgeschnitten zu sein.
Nachdem sie den Tee aufgebrüht hatte, kehrte sie ins Schlafzimmer zurück. Mit vornehm zurückhaltender Freude nahm der Hund den Kuchen an und ließ sich dann auf der Matte neben dem Bett nieder. Lucia trank ihren Tee, zündete sich eine Zigarette an, sank in die Kissen zurück und überdachte die letzten Monate ihres Lebens, nach deren Ablauf sie nun hier an der Tankstelle >Zum Kreuzweg< gelandet war, fünfhundert Kilometer von ihrem Zuhause und noch ziemlich weit von der nächsten Kleinstadt entfernt...
Onkel Peters Brief war gerade in dem Augenblick angekommen, da der Beruf ihr zum Halse heraushing und sie an einem albernen Liebeskummer litt. — »Der Arzt meint«, hatte der Onkel klipp und klar mitgeteilt, »ich müsse mich operieren lassen und dürfe nie mehr schwer arbeiten. Ich bin also ein alter Mann und sollte wohl meinen Beruf, sowenig er mich anstrengt, endgültig aufgeben. Möchtest Du nicht meine Nachfolgerin
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