Lautlos
Ohr. Schreie und Schüsse. Sie begann zu schluchzen, warf sich auf das Bett und verbarg sich zwischen den Kissen.
»Jana?«
Sie schreckte hoch aus der Erinnerung, wandte den Kopf zu Mirko und lächelte.
»Tut mir leid. Ich war eine Sekunde in Gedanken. Was hatten Sie gesagt?«
»Ich hatte Sie gefragt, ob Sie jemals im Kloster Visoki Decani gewesen sind. Es ist eines der prächtigsten im Kosovo.« Mirko legte den Kopf in den Nacken und sah an den Türmen des Kölner Doms hoch. Sie standen vor dem Hauptportal auf der Domplatte und spielten Touristen. Jana war als Karina Potschowa eingereist und trug die Perücke mit den langen blonden Haaren, Mirko sah aus wie immer. Jeans, Lederjacke, angegrauter Bürstenhaarschnitt.
Sie waren den Vormittag über durch Köln geschlendert. Für jemanden, der ihnen gefolgt wäre, hätte es den Anschein gehabt, als absolvierten sie das übliche Besuchsprogramm. Historisches Rathaus, Altstadt, Gürzenich, die Märkte, Dom, Rheinpromenade, unterbrochen von Exkursionen durch die Geschäftsstraßen auf der Suche nach Souvenirs. In Wirklichkeit hatten weder Jana noch Mirko an diesem Morgen Augen für die Schönheiten der Stadt. Stattdessen schritten sie das ab, was Jana vorübergehend als Plan B vorgeschwebt hatte.
»Diese Kirche ist bemerkenswert«, sagte Mirko. »Ich frage mich, ob sie für die Deutschen dieselbe historische Bedeutung hat wie die kosovarischen Klöster für Serbien.«
Jana zuckte die Achseln. Sie kannte das Kloster Decani. Mirko hatte Recht, wenn er es als prächtig beschrieb. Die Klosterkirche entstammte der ersten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts und vereinte byzantinische, romanische und gotische Elemente. Das Gotteshaus, die Dormitorien, die Wirtschaftsgebäude, sogar die mächtigen Klostermauern fügten sich harmonisch in die Gebirgslandschaft ein, mit deren natürlicher Größe sie gar nicht erst in Wettstreit zu treten versuchten.
Kaum irgendwo sonst wurde so deutlich wie im Kloster Decani, warum den Serben das Kosovo als Wiege ihres Staates und ihrer Kirche galt. Tatsächlich waren die Kirchen und Klöster im Kosovo von kaum zu ermessender historischer Bedeutung. Es gab eine Reihe gut erhaltener Bauwerke aus dem Mittelalter, dazu die Ruinen und Überreste von rund zwei Dutzend weiterer Klöster und weit über hundert Kirchen. Als Jana das Kloster vor Jahren besucht hatte, hatte vollkommene Ruhe über Decani gelegen, und sie erinnerte sich an die mächtigen Erhebungen der albanischen Alpen ringsum. Deren östliche Ausläufer zogen hier eine natürliche Grenze: das Kosovo auf der einen, Albanien und Montenegro auf der anderen Seite. Damals – obschon Ende Mai – hatte noch Schnee auf den über zweieinhalbtausend Meter hohen Gipfeln gelegen, während in der Hochebene bereits der Frühling Einzug gehalten hatte, die Wiesen in sattem Grün dalagen und die Obstbäume Blüten trieben. Etwas Majestätisches war von dem Kloster ausgegangen. Sie war eingetreten und hatte dem psalmodierenden Gesang der Mönche gelauscht, der vor über sechshundert Jahren wahrscheinlich nicht wesentlich anders geklungen hatte als jetzt, und obwohl sie an keinen Gott glaubte, hatte sie den Einfluss einer höheren Macht zu verspüren gemeint, welche die rohe Gegenwart jenseits der Klostermauern ausschloss.
Auch das sollte ihrem Volk also genommen werden.
Jana folgte Mirkos Blick bis zu den Spitzen der Türme.
»Wie kommen Sie jetzt auf Klöster?«, fragte sie.
»Nur so. Ich hatte in letzter Zeit öfter Gelegenheit, mich in welchen rumzutreiben.«
»Freut mich, dass Sie sich von Geschichte beeindrucken lassen.«
»Tue ich nicht«, sagte Mirko. »Aber in Decani war ich als Kind. Wir waren oft im Kosovo. Decani ist ein schöner Spielplatz.«
Jana verspürte wenig Lust, die Unterhaltung auf persönliches Terrain abgleiten zu lassen, wenngleich ihr Mirko durchaus sympathisch war. Sie mochte seine nüchterne Art, und er sah gut aus. Sie hätte ihm erzählen können von ihrer eigenen Kindheit, von den Besuchen in der Krajina, von ihren Eltern.
Aber es ging niemanden etwas an. Es war die Geschichte eines Mädchens namens Sonja, das in sechs Monaten endgültig aufhören würde zu existieren. Kein Grund, intim zu werden.
»Wie gefällt Ihnen Plan B?«, fragte sie und wechselte damit unmissverständlich das Thema.
»Schwierig, so etwas in der Stadt zu machen«, sagte Mirko. »Die andere Variante gefällt mir besser. Draußen am Flughafen hätten wir im Übrigen auch so etwas wie Plan
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