Lazyboy
jetzt schon zu lange im Dämmer, und wenn ich zurückfände in die wirkliche Welt, dann könne ich nicht mehr derselbe sein, derselbe dysfunktionale, funktionierende Heiner-Lazyboy wie zuvor. Sie sagt all dies, und ich habe keine Ahnung, wer ich bin, ob der Alte oder der Neue, ob noch alles funktioniert bei mir oder eine Behinderung bleibt, die man nicht sieht, die man nicht spürt, aber die mich niemals wieder loslassen wird.
Dann stehen sie alle um mein Bett herum, die Schwiegermutter, der Schwiegervater, sogar meine Schwester ist aus Karlsruhe angereist, sie war schon einmal für zwei Wochen da, erzählt Monika, saß stumm und schmal an meinem Bett, und wir schauen uns alle aus großen schwarzen Augen an, und niemand findet die richtigen Worte.
Und dann ist da nur noch Monika.
Monika.
Monika, die mich anschaut, die sich zu mir legt und bei mir liegt, die mich anfasst und traurig macht und froh.
Und irgendwann bin einfach nur noch ich da, müde, taub, voll und leer. Und es fällt mir von Minute zu Minute schwerer, all das zu glauben. Dann erwache ich erneut und Monika ist fort, und ich erinnere mich, sie sagen gehört zu haben, dass sie jetzt gehe, aber bald wieder zurückkehre zu mir, sie sei fortgeschickt worden, weil sie einmal wieder etwas wirklichen Schlaf zu Hause brauche, und auch ich bräuchte Ruhe, und da ich jetzt einmal da sei, gebe es auch keine Gefahr mehr, habe man ihr gesagt. Dass ich nicht einfach so zurückgleiten könne ins Ungewisse, darauf dürfe sie vertrauen.
Und also bin ich jetzt allein in diesem Zimmer und schaue mich um. Mein Zimmer. Ich bin das, ich liege hier im Krankenhausbett, unglaublich. Lange bin ich durch die Einöde gelaufen, um eine Verbindung herzustellen. Ich schaue mich im Zimmer um, ein Kalender mit einem Blumenbild hängt an der Wand, möglicherweise handelt es sich um Freesien, zumindest fällt mir beim Anblick dieses Wort ein, ein Schrank ist halb geöffnet, mein Bademantel hängt darin. Da ist ein Fenster in der Wand, dahinter gibt es eine ganze Welt, da draußen, unglaublich, zu viel für mich, für mein wiedervereinigtes Gehirn, das seinen Tag der Einheit von nun an jeden Tag aufs Neue fatalistisch hingegeben feiern will.
Irgendwann klopft es an der Tür. Ein 13-jähriges Mädchen steckt den Kopf ins Zimmer.
»Darf ich reinkommen?«, fragt sie.
»Klar«, sage ich. »Woher weißt du?«
»Telefon, schon mal gehört? Ich kann dich ja wohl kaum mit dieser Geschichte allein lassen.«
Sie setzt sich zu mir auf die Bettkante. Wir lächeln uns an.
»Wie geht’s?«, fragt sie.
»Müde«, sage ich und komme mir vor wie ein Onkel im Krankenhausbett.
»Ich habe dir dein Buch mitgebracht«, sagt Daphne. »Du hattest es tatsächlich vergessen, Blödmann.«
»Danke«, sage ich. Sie legt mir das Buch in die schlappen Hände. Ich fahre über den Buchdeckel. Es fühlt sich real an. Der See, die Wand.
»Danke«, sage ich noch einmal. Wir schauen uns eine Weile an.
»Du siehst scheiße aus«, sagt sie. »Weißt du was, ich guck mich mal um hier, ich komm später wieder, ich glaube, ich gebe dir besser mal ein bisschen Zeit zum Ankommen und zum Verdauen, was?«
»Ja«, sage ich leise mit meiner onkelhaften Stimme.
»Hm«, macht sie. Sie fasst nach meiner Hand und streichelt ganz leicht über den Handrücken. Ich fasse mein Buch etwas fester.
Dann steht sie auf und geht, ohne sich noch einmal umzublicken. Sie geht auf die Tür zu. Sie öffnet die Tür. Sie hält die Klinke in der Hand und späht durch den Spalt in den Krankenhausflur hinaus. Sie schiebt sich in den Spalt. Und dann ist sie fort, ist plötzlich verschwunden, ihr Körper hat sich aufgelöst, vor meinen Augen, noch bevor sie ganz durch den Spalt geschlüpft ist, noch bevor sie jemals im Krankenhausflur ankommen konnte.
Ich liege im Bett, endlich angekommen, alleine wie immer.
Ich schlage das Buch auf.
Michael Weins
*1971, lebt als Autor und Psychologe in Hamburg. Er ist Mitbegründer der Literaturclubs Machtclub und Schischischo . Er veröffentlichte bisher die Romane Delfinarium (2009) und Goldener Reiter (2002) sowie die Erzählbände Krill (2007) und Feucht (2001).
www.michaelweins.de
Impressum
[mairisch 31]
1. Auflage, 2011
© mairisch Verlag 2011
www.mairisch.de
Korrektorat: Annegret Schenkel | www.korrektorat-schenkel.de
Umschlagfoto: Rosie Hardy | www.rosiehardy.com
Karte: Thomas Wellhausen | www.thomaswellhausen.de
Autorenfoto: Tanja Bächlein | www.bachlein.de
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