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Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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diese Aufforderung auch stets auf französisch geäußert hatte, selbst wenn wir sonst deutsch sprachen. Für jemanden wie mich, dessen Kehle nicht für die hellen französischen Laute gemacht ist, hatte das spitze Wort einen befehlshaberischen, diktatorischen Klang, der mich einschüchterte, selbst wenn es um etwas Harmloses ging. Und so zügelte ich meine Ungeduld und horchte gehorsam in die Bahnhofshalle hinunter. Nun hörte auch ich, was Lea vorhin hatte innehalten lassen: die Klänge einer Geige. Zögernd ließ ich mich von ihr auf die Rolltreppe ziehen, und nun glitten wir, eigentlich gegen meinen Willen, in die Halle des Berner Bahnhofs hinunter.
    Wie oft habe ich mich gefragt, was aus meiner Tochter geworden wäre, wenn wir es nicht getan hätten! Wenn uns kein Zufall diese Klänge zugespielt hätte. Wenn ich meiner Ungeduld und Anspannung der bevorstehenden Sitzung wegen nachgegeben und Lea mit mir fortgezogen hätte. Wäre sie der Faszination durch den Geigenklang bei anderer Gelegenheit, in anderer Gestalt erlegen? Was sonst hätte sie eines Tages aus ihrer lähmenden Trauer erlöst? Wäre ihr Talent auch so ans Licht gekommen? Oder wäre sie ein ganz gewöhnliches Schulmädchen mit einem ganz gewöhnlichen Berufswunsch geworden? Und ich? Wo stünde ich heute, wenn ich mich nicht der ungeheuren Herausforderung durch Leas Begabung gegenübergesehen hätte, der ich in keiner Weise gewachsen war?
    Ich war, als wir an jenem Nachmittag den Fuß auf die Rolltreppe setzten, ein vierzigjähriger Biokybernetiker, das jüngste Mitglied der Fakultät und ein aufsteigender Stern am Himmel dieser neuen Disziplin, wie die Leute sagten. Céciles Agonie und ihr früher Tod hatten mich erschüttert, mehr, als ich wahrhaben wollte. Aber ich hatte der Erschütterung äußerlich gesehen standgehalten und es durch akribische Planung geschafft, den Beruf mit meiner Rolle als Vater, der nun allein verantwortlich war, zu verbinden. Nachts, wenn ich am Rechner saß, hörte ich aus dem Nebenzimmer, wie Lea sich hin und her wälzte, und ich bin selbst kein einziges Mal schlafen gegangen, bevor sie zur Ruhe gekommen war, gleichgültig, wie spät es wurde. Die Müdigkeit, die anwuchs wie ein schleichendes Gift, bekämpfte ich mit Kaffee, und manchmal war ich kurz davor, wieder mit dem Rauchen anzufangen. Aber Lea sollte nicht mit einem süchtigen Vater in einer verrauchten Wohnung aufwachsen.«
    Van Vliet holte die Zigaretten aus der Jacke und steckte sich eine an. Wie heute morgen im Café schirmte er die Flamme mit seiner großen Hand gegen den Wind ab. Jetzt, aus größerer Nähe, sah ich das Nikotin an den Fingern.
    »Alles in allem hatte ich die Situation unter Kontrolle, wie mir schien; nur die Ringe unter den Augen wurden größer und dunkler. Es hätte, denke ich, alles gut werden können, wenn wir beide damals nicht die Rolltreppe betreten hätten. Aber Lea war mit dem einen Fuß bereits auf dem gleitenden Metall, und sie hatte doch solche Angst vor Rolltreppen, sie hatte diese Angst von Cécile übernommen, so vieles war von der vergötterten Mutter in sie eingedrungen wie durch Osmose. Die Musik war in jenem Moment stärker als die Angst, deshalb hatte sie den ersten Schritt getan, und nun konnte ich sie unmöglich allein lassen und strich ihr beruhigend übers Haar, bis wir unten angekommen waren und in die Menge von atemlos lauschenden Menschen eintauchten, die der Geigerin verzaubert zuhörten.«
    Van Vliet warf die halb gerauchte Zigarette in den Sand und verbarg das Gesicht in den Händen. Er stand neben seiner kleinen Tochter im Bahnhof. Es gab mir einen Stich. Ich dachte an meinen Besuch bei Leslie in Avignon. Was Lea für Martijn van Vliet gewesen war, war Leslie für mich nie gewesen. Es war nüchterner zugegangen zwischen uns. Nicht lieblos, aber spröder. War es, weil ich in den Jahren nach ihrer Geburt fast nur gearbeitet hatte und aus der Bostoner Klinik oft tagelang nicht herausgekommen war?
    So stellte es Joanne dar. As a father you’re a failure.
    Wir hatten kein einziges Mal richtig Urlaub gemacht; wenn ich verreiste, dann zu Kongressen, auf denen neue Operationstechniken vorgestellt wurden. Leslie war neun, als wir in die Schweiz zurückkamen, sie sprach ein Mélange aus Joannes Amerikanisch und meinem Berndeutsch, die Spannungen zwischen den Eltern machten sie verschlossen, sie suchte sich Freunde, die wir nicht kannten, und als Joanne für immer nach Amerika zurückging, kam sie in ein Internat, ein

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