Lea
Maghrebiner, Dr. Meridjen. Jetzt geht es vor allem um Ihre Tochter; daran werden Sie sich gewöhnen müssen. Stellen Sie sich vor: Das wagte mir der Mann zu sagen. Mir! C’est de votre fille qu’il s’agit. Als sei das nicht siebenundzwanzig Jahre lang der Leitsatz meines Lebens gewesen! Die Worte verfolgten mich wie ein nicht enden wollendes Echo. Er sagte sie am Ende unseres ersten Gesprächs, bevor er hinter dem Schreibtisch aufstand, um mich zur Tür des Sprechzimmers zu begleiten. Er hatte hauptsächlich zugehört, ab und zu war die dunkle Hand mit dem silbernen Stift über das Papier geflogen. An der Decke drehten sich träge die riesigen Blätter eines Ventilators, in den Gesprächspausen hörte ich das leise Summen des Motors. Nach meinem langen Bericht fühlte ich mich wie ausgeleert, und wenn er mir über die Gläser der Halbbrille hinweg einen seiner schwarzen, arabischen Blicke zuwarf, kam ich mir vor, als säße ich schuldig vor einem Richter.
Sie ziehen nicht nach Saint-Rémy , sagte er unter der Tür zu mir. Es war ein vernichtender Satz. Die wenigen Worte ließen es so aussehen, als sei meine Hingabe an das, was ich für Leas Glück hielt, nichts weiter als eine Orgie väterlichen Ehrgeizes gewesen und der verzweifelte Versuch, sie an mich zu binden. Als müsse man meine Tochter vor allem vor mir beschützen. Wo ich doch für Lea nur diesen einen Wunsch hatte, diesen einen, alles verdrängenden Wunsch: daß die Trauer und Verzweiflung über Céciles Tod für immer vorbei sein möchten. Natürlich hatte dieser Wunsch auch mit mir zu tun. Natürlich hatte er das. Doch wer will mir das vorwerfen? Wer? «
In seinen Augen standen Tränen. Am liebsten wäre ich ihm mit der Hand über das windzerzauste Haar gefahren. Wie denn alles gekommen sei, fragte ich, nachdem wir uns an der Böschung in den Sand gesetzt hatten.
3
»ICH KANN AUF DEN TAG , ja die Stunde genau sagen, wann alles begann. Es war an einem Dienstag vor achtzehn Jahren, dem einzigen Wochentag, an dem Lea auch nachmittags Schule hatte. Ein Tag im Mai, tiefblau, überall blühende Bäume und Sträucher. Lea kam aus der Schule, neben sich Caroline, ihre Freundin seit den ersten Schultagen. Es tat weh zu sehen, wie traurig und erstarrt Lea neben der hüpfenden Caroline die wenigen Stufen zum Schulhof hinunterging. Es war der gleiche schleppende Gang wie vor einem Jahr, als wir zusammen aus der Klinik gekommen waren, in der Cécile den Kampf gegen die Leukämie verloren hatte. An diesem Tag, beim Abschied vom stillen Gesicht der Mutter, hatte Lea nicht mehr geweint. Die Tränen waren aufgebraucht. In den letzten Wochen vorher hatte sie immer weniger gesprochen, und mit jedem Tag, so schien es mir, waren ihre Bewegungen langsamer und eckiger geworden. Nichts hatte diese Erstarrung zu lösen vermocht: nichts, was ich mit ihr zusammen unternommen hatte; keines von den vielen Geschenken, die ich gekauft hatte, wenn mir schien, ich könne ihr einen Wunsch vom Gesicht ablesen; keiner meiner verkrampften Scherze, die ich der eigenen Erstarrung abtrotzte; auch nicht der Schuleintritt mit all den neuen Eindrücken; und ebensowenig die Mühe, die sich Caroline vom ersten Tag an gegeben hatte, sie zum Lachen zu bringen.
›Adieu‹, sagte Caroline am Tor zu Lea und legte ihr den Arm um die Schulter. Für ein achtjähriges Mädchen war das eine ungewöhnliche Geste: als sei es die erwachsene Schwester, die der jüngeren Schutz und Trost mit auf den Weg gab. Lea hielt den Blick wie immer zu Boden gesenkt und erwiderte nichts. Wortlos legte sie ihre Hand in die meine und ging neben mir her, als wate sie durch Blei.
Wir waren eben am Hotel SCHWEIZERHOF vorbeigegangen und näherten uns der Rolltreppe, die in die Bahnhofshalle hinunterführt, als Lea mitten im Strom der Leute stehenblieb. Ich war in Gedanken bereits bei der schwierigen Sitzung, die ich bald zu leiten hatte, und zog ungeduldig an ihrer Hand. Da entwand sie sich mit einer plötzlichen Bewegung, blieb noch einige Augenblicke mit gesenktem Kopf stehen und lief dann in Richtung Rolltreppe. Noch heute sehe ich sie laufen, es war ein Slalomlauf durch die eilige Menge, der breite Schultornister auf ihrem schmalen Rücken verfing sich mehr als einmal in fremden Kleidern. Als ich sie einholte, stand sie mit vorgerecktem Hals oben an der Rolltreppe, unbekümmert um die Leute, denen sie im Weg stand. › Écoute!‹ sagte sie, als ich zu ihr trat. Sie sagte es in dem gleichen Tonfall wie Cécile, die
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