Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
Vom Netzwerk:
gutes, aber ein Internat. Sie war nicht unglücklich, glaube ich, aber sie entglitt mir noch mehr, und wenn ich sie sah, war es mehr wie die Begegnung zwischen zwei guten Bekannten als zwischen Vater und Tochter.
    Van Vliets Geschichte würde die Geschichte eines Unglücks sein, das war klar; aber dieses Unglück war aus einem Glück herausgewachsen, wie ich es nicht gekannt hatte, warum auch immer.
    »Sie war keine große Frau«, sagte er in meine Gedanken hinein, »aber sie stand auf einem Podest und überragte die Menge mit dem Oberkörper. Und bei Gott, man konnte sich auf der Stelle in sie verlieben! Etwa so, wie einer sich in eine überwältigende Statue verlieben mag, nur leichter, schneller und viel, viel heftiger. Das erste, was meinen Blick gefangennahm, war ein Schwall von schwarzglänzendem Haar, das bei jeder Bewegung des Kopfs von neuem unter dem hellen Dreispitzhut hervorzuströmen und sich auf die gepolsterten Schultern ihres Gehrocks zu ergießen schien. Und was für ein märchenhafter Gehrock das war! Ausgeblichenes Hellrosa und verwaschenes Gelb, Farben wie an einem verfallenen Palazzo. Davon hoben sich, wie auf einem Gobelin, vielfach gewundene Drachenfiguren ab, rotgoldener Faden und rote Glassplitter, die wie kostbare Rubine schimmerten. Es war viel geheimnisvoller Orient in dieser Jacke, die der Frau bis fast zu den Knien reichte. Sie trug sie offen, man sah eine beige Kniebundhose, die oben von einer ockerfarbenen Schärpe zusammengehalten wurde und unten in weiße Seidenstrümpfe überging, die in schwarzen Lackschuhen steckten. Über der Schärpe trug sie ein rüschenverziertes Hemd aus weißem Satin, das den weiten Stehkragen des Gehrocks mit einem eigenen Kragen ausfüllte. Ein Stück des weichen, weißen Stoffs hatte sie über den Stehkragen gezogen, und darauf preßte das energische Kinn die Geige. Und zuoberst der ausladende Hut mit den drei Ecken, im Stoff ähnlich dem Gehrock, aber in der Wirkung schwerer, denn die Ränder waren eingefaßt in schwarzen Samt. Wir haben zusammen unzählige Zeichnungen von ihr gemacht, Lea und ich, und über einige der Einzelheiten konnten wir uns nie einigen.« Van Vliet schluckte. »In der Küche war das, am großen Tisch, den Cécile in die Ehe gebracht hatte.«
    Er stand ohne Erklärung auf und ging ans Wasser. Eine Welle überspülte seine Schuhe, er schien es nicht zu bemerken.
    »Ganz richtig ist es nicht«, fuhr er fort, als er wieder neben mir saß, Tang an den Schuhen, »daß es das lange, wallende Haar war, das mich an dieser märchenhaften Geigerin als erstes fesselte. Noch mehr waren es die Augen, oder eigentlich nicht die Augen, sondern die weiße Augenmaske, die fast bruchlos in das weiß gepuderte Gesicht überging. Je länger ich dort stand, desto mehr schlug mich das maskierte Gesicht in seinen Bann. Zuerst waren es die Unbeweglichkeit und schiere Stofflichkeit der Maske, die mich frappierten, weil sie in schreiendem Gegensatz zu der seelenvollen Musik standen. Wie konnte eine steife Maske so etwas hervorbringen! Nach und nach dann begann ich die Augen hinter den kleinen Schlitzen zu ahnen und dann zu sehen. Meist waren sie geschlossen, dann wirkte das gepuderte Gesicht versiegelt und tot. Fast schienen die Töne dann wie aus dem Jenseits zu kommen und sich ihres blicklosen Körpers zu bedienen wie eines Mediums. Besonders an langsamen, lyrischen Stellen, wenn sich das Instrument kaum bewegte und der Arm mit dem Bogen nur langsam durch den Raum glitt. Ein bißchen war es, als spräche Gottes wortlose Stimme zu den atemlos lauschenden Reisenden, die ihre Koffer, Rucksäcke und Taschen neben sich auf den Boden gestellt hatten und die überwältigende Musik in sich aufnahmen wie eine Offenbarung. Die übrigen Geräusche des Bahnhofs schienen neben der Musik keine Wirklichkeit zu besitzen. Was da an Klängen aus der dunkel glänzenden Violine kam, besaß eine eigene Wirklichkeit, die, so ging es mir durch den Kopf, selbst von einer Explosion nicht hätte erschüttert werden können.
    Ab und zu öffnete die Frau die Augen. Dann wurde ich an Filmbilder von Banküberfällen erinnert, die in mir stets die brennende Frage entstehen lassen, wie das Gesicht aussieht, das zu den Augen gehört. Die ganze Zeit über nahm ich der Geigerin in Gedanken die Maske ab und dichtete ihr Blicke und ganze Gesichter an. Ich fragte mich, wie es wäre, solchen Augen und einem solchen Gesicht beim Essen gegenüberzusitzen oder bei einem Gespräch. Daß sie stumm

Weitere Kostenlose Bücher