Leander und der tiefe Frieden (German Edition)
Familiengeschichte beantworten konnte; die Erkenntnis, dass
Leanders Frau Inka sich nicht damit zufriedengab, immer nur allein zu sein; die
Entdeckung, dass sie ihn betrog, ihre Mitteilung, ihn zu verlassen –, wollte
Leander lieber nicht eruieren, weil er sich dann auch noch schuldig hätte
fühlen müssen. Fakt war jedenfalls, dass der Hörsturz eine Vorgeschichte gehabt
hatte. Auch ohne die anschließende Therapie und die darauffolgenden Meetings
mit dem Polizeipsychologen war Leander klar gewesen, dass er sich in all seinen
Funktionen hoffnungslos übernommen und verfahren hatte. Er nutzte die Krankheit
und die damit verbundene Zeit der Ruhe, um zu sich selbst zu finden, zog aus
dem gemeinsamen Haus aus in eine kleine Wohnung, machte stundenlange
Spaziergänge an der Kieler Förde. In dieser Zeit stellte er sich die
grundsätzliche Sinnfrage, ohne jedoch eine Antwort darauf zu finden.
»Midlife Crisis«, hatte seine Kollegin Lena teils schmunzelnd,
teils ernsthaft besorgt gesagt, aber es war mehr als nur die Krise in der Mitte
des Lebens, die man eines Tages ausgestanden hat oder mit der man sich
zumindest arrangiert, denn einen Ausweg, eine Chance zum rigorosen Ausstieg,
ohne verbrannte Erde zu hinterlassen, gibt es für gewöhnlich nicht. Und so
hatte er eines Tages seinen Dienst wieder aufgenommen, mit einem gleichmäßigen
leichten Rauschen im Ohr als ständigem Begleiter. KHK Henning Leander stürzte
sich in Fälle, die nicht seine waren, und ermittelte im Leben anderer Menschen
herum, ohne sein eigenes in den Griff zu bekommen. Und dabei machte er täglich
die Erfahrung, dass die Strafverfolgungsbehörden auf hoffnungslosem und längst
verlorenem Posten standen. Dieser Weg musste zwangsläufig ins Verderben führen,
das war Leander klar, aber er war nicht in der Lage, es zu ändern, zumal er ja
auch im Sommer keine Antworten auf seine Fragen bekommen hatte.
Und nun fuhr er an einem regnerisch kalten Donnerstag, genauer
gesagt am 18. Dezember, sieben Tage vor Weihnachten, Hals über Kopf im Sturm
nach Föhr, um einen alten Mann zu besuchen, der sein Großvater war und den er
dennoch gar nicht kannte.
»Ich brauche deine Hilfe, Junge«, hatte der alte Mann gesagt.
»Ich verspreche dir auch, dass ich dir auf alle deine Fragen antworten werde,
wenn du nur so schnell wie möglich kommst.«
Und nach einer Pause hatte er noch leise hinzu gefügt: »Sonst
kann es vielleicht zu spät sein.«
Vielleicht würde das die Wende bringen. Jetzt und hier auf der
Landstraße nach Dagebüll, im Übergang zwischen der stürmischen Nacht und dem
grauenden Morgen und ohne eine Menschenseele weit und breit, spürte Leander,
dass er seine Mitte erst finden konnte, wenn er endlich seine eigene Geschichte
kannte. Und vielleicht war dieser Moment doch nicht so schlecht. Vielleicht war
es gerade jetzt wichtig, aus dem Trott gerissen zu werden, aus der sinnlosen
Grübelei und Depression, die ja doch zu nichts führte.
Leander hatte nach dem Anruf seines Großvaters Lena angerufen.
Sie musste für ihn seinen Jahresurlaub einreichen, von dem ihm der Großteil
wegen seines krankheitsbedingten Ausfalls noch zustand, und seine dringendsten
Fälle übernehmen. Dann hatte er die nötigsten Sachen für zwei bis drei Wochen
zusammengepackt und sich auf den Weg gemacht, um die erste Fähre nach Föhr zu
erreichen.
Vor ihm tauchte nun das Ortseingangsschild von Dagebüll auf,
ein verschlafenes Nest, das ohne seinen Fährhafen bis heute wahrscheinlich noch
gar nicht entdeckt worden wäre. Die niedrigen Fischerhäuser lagen schlafend
entlang der Straße aufgereiht. Jetzt, im Dezember, gab es für Fischer nicht
viel zu tun, da konnten sie ausschlafen. Nur die geduckten windschiefen Bäume
in den Gärten, die alle in eine Richtung wuchsen, peitschten im Sturm hin und
her.
Die Durchfahrt durch den Deich in den Hafen war gerade breit
genug für zwei Fahrzeuge und wirkte wie das Tor in die Freiheit. Der Regen
fegte hier in schrägen Fäden auf den Asphalt und peitschte im gleichen
Ausfallwinkel zurück, nur um prasselnd an der Windschutzscheibe zu verenden.
Leander hielt kurz an der Kontrollstation, die leicht an eine Mautstation auf
einer italienischen Autobahn erinnerte, zeigte seinen Fahrzeugschein vor,
beglich die Gebühr für die Überfahrt und reihte sich dann in die ihm zugewiesene
Wartespur vor dem Fähranleger ein. Vor ihm standen zwei weitere Fahrzeuge mit
von innen beschlagenen Fensterscheiben.
Sein Auto kühlte schon Minuten nach
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