Leander und der tiefe Frieden (German Edition)
Wichtiges sagen müsse, das
beider Leben betreffe und nicht am Telefon abgehandelt werden könne.
Leander war seinem Großvater erst zweimal begegnet, und er
kannte ihn nicht gut genug, um einschätzen zu können, wie dringend die Sache
wirklich war, aber der alte Mann hatte am Telefon so aufgewühlt gewirkt, dass
Leander sein Kommen für den nächsten Tag zugesagt hatte. Nach dem Telefonat
hatte er keine Ruhe gefunden. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Er hatte
seinen Großvater erst im letzten Sommer kennengelernt, ein Jahr nach dem Tod
seines eigenen Vaters, der ihm die Existenz des alten Mannes auf Föhr ein Leben
lang verschwiegen und den erst auf dem Sterbebett das schlechte Gewissen zu
einem Geständnis bewegt hatte.
Bei der Beerdigung hatte dann plötzlich ein alter Mann mit
geröteten Augen neben ihm am Grab gestanden, sich als sein Großvater
vorgestellt und ihn nachher, beim Kaffeetrinken, zu sich auf die Insel
eingeladen. Ein Jahr hatte Leander gebraucht, bis er sich dazu hatte
durchringen können, dieser Einladung zu folgen. Vielleicht hatte es so lange
gedauert, bis er sich darüber klar geworden war, dass er nun Antworten auf
seine Fragen bekommen würde – Fragen, die sich erst seit dem Tod seines Vaters
stellten. Vielleicht hatte er genau vor diesen Antworten einfach zu viel Angst
gehabt, um seinem Großvater sofort auf die Insel zu folgen.
Im letzten Sommer hatte er den alten Mann dann besucht und ihn
als ähnlich verschlossen erlebt wie seinen Vater, entsprechend skeptisch war er
nun. Sollte sich sein Großvater etwa zu einer Klette entwickeln? Was wusste
Leander eigentlich über ihn, außer den Verwandtschaftsgrad, dass er Fischer von
Beruf gewesen war und dass Leanders Vater jahrzehntelang so sehr mit ihm über
Kreuz gewesen war, dass er seine Existenz dem eigenen Sohn verheimlicht hatte?
Andererseits: Wie dringend musste das Anliegen des alten Mannes sein, wenn er
sich an seinen Enkel wandte, den er ja ebenso wenig kannte? Vielleicht würde er
nun endlich mit der Sprache herausrücken und Leander sagen, was damals zwischen
Vater und Sohn geschehen war. Im Sommer hatte er sich standhaft geweigert, Auskunft
darüber zu geben. Die Zeit sei noch nicht reif, zuerst müssten sie sich einmal
kennenlernen, bevor sie die Familiengeschichte gemeinsam aufarbeiten könnten.
Er hatte tatsächlich »aufarbeiten« gesagt.
Leander schüttelte den Kopf. Er hatte momentan genug damit zu
tun, sein eigenes Leben »aufzuarbeiten«, das gerade in allen Bereichen den Bach
hinunterging. Zumal sich die Ursachen dafür nur schwer fassen ließen und eher
eine Aneinanderreihung von Fehlschlägen und Ereignissen waren – und selbst
eine klare Zuspitzung auf den privaten oder den beruflichen Bereich schien ihm
kaum möglich.
Der Rechenschaftsbericht des Kriminalhauptkommissars Henning
Leander im Dezernat 12 – Internationale Zusammenarbeit und Fahndung – des
Landeskriminalamtes in Kiel hätte sich wie eine chaotische Verquickung von Zufälligkeiten
und zwangsläufigen Entwicklungen gelesen, diese jedoch kybernetisch vernetzt
und kaum mehr zu entzerren, hätte sich Leander die Mühe gemacht, oder besser
gesagt, den Mut gefunden, einen solchen zu verfassen. Wann hatte es angefangen?
Auf jeden Fall vor seiner Krankheit, das Problem war grundsätzlicher Natur, so
viel war Leander klar.
Der Hörsturz hatte sich schon länger angekündigt, nachts, wenn
Leander nach sechzehn Stunden Dienst ins Bett fiel und doch nicht schlafen
konnte, weil ihn die Bilder des Tages verfolgten und ihm von Jahr zu Jahr alles
sinnloser erschien. Dann hörte er plötzlich in seinem linken Ohr ein lautes
Pfeifen, das einzig in seinem Kopf existierte. Anfangs war es morgens wieder
verschwunden gewesen, um dann im Laufe der Zeit hin und wieder auch am Tage aufzutreten,
sich später in ein Dauerrauschen zu verwandeln und zuletzt eines Morgens einer
Stille zu weichen, als hätte jemand Leanders Ohr besonders gründlich mit Watte
verstopft. Zuerst hatte er die plötzliche Ruhe wie eine Entlastung empfunden,
aber als er dann merkte, dass er nicht nur von dem Rauschen und Pfeifen befreit
war, sondern gar nichts mehr hörte und zudem die gesamte linke Gesichtshälfte
gefühllos war, hatte er begriffen, dass nun der Moment gekommen war, vor dem er
sich so lange gefürchtet hatte.
Welchen Anteil seine persönliche Krise daran hatte – der Tod
seines Vaters, der dem Lungenkrebs erlegen war, bevor er Leanders drängende
Fragen zur eigenen
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