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Lebe lieber innovativ

Lebe lieber innovativ

Titel: Lebe lieber innovativ Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tina Seelig
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erwähnt werden. Diese einfache Aufgabe zeigte, dass die Welt – je nach der emotionalen Verfassung des Betrachters – völlig unterschiedlich aussehen kann. Als ich mir vorstellte, in einem Zustand der Glückseligkeit durch eine überfüllte Stadt zu bummeln, konzentrierte ich mich geistig auf Farben und Geräusche und ließ meinen Blick in die Ferne schweifen. Dann stellte ich mir vor, niedergeschlagen durch dieselbe Szenerie zu gehen – da wirkte alles grau und jeder Makel, wie etwa die Risse auf dem Bürgersteig, fiel mir sofort ins Auge. Ich konnte meinen Blick nicht vom Boden lösen und die Stadt wirkte nicht mehr aufregend, sondern abschreckend. Ich habe einmal herausgesucht, was ich da vor fast zwölf Jahren geschrieben habe:
    Linda beugte sich voller Bewunderung über den Strauß pfirsichfarbener Rosen, den sie eben gekauft hatte. Von den Blumen schweiften ihre Sinne verträumt zu dem wunderbaren Duft nach frischem Brot hinüber, der aus der Bäckerei nebenan kam. Neben dem Eingang stand ein Hobby-Jongleur. In seinem farbenfrohen Kostüm hatte er eine Kinderschar als Publikum angelockt, die bei jedem Fehler, den er machte, kicherte. Linda sah einige Minuten zu und bemerkte plötzlich, dass sie
auch kicherte. Er beendete seine Darbietung mit einer theatralischen Verbeugung. Linda verbeugte sich ebenfalls tief vor ihm und überreichte ihm eine Rose.
     
    Joe ging mit gesenktem Kopf, um sich vor dem eisigen Nebel zu schützen, als der Wind einige Zeitungspapiere durch die Luft peitschte, die gegen die Mauern schlugen, bevor sie erneut wegflogen. »Trittst du auf einen Riss im Asphalt, wird deine Mutter nicht alt. Trittst du zwischen zwei Steine, bricht ihr das beide Beine.« Die Worte dieses Kinderreims wiederholten sich immer wieder in Joes Geist, als er die Risse anschaute, die das gleichmäßige Muster der Gehwegplatten unterbrachen. Der Spottvers aus der Kindheit wurde zu einem dumpfen Dröhnen in seinem Hinterkopf, als er auf den unebenen Weg blickte, der sich vor ihm erstreckte.
    Diese Aufgabe schulte mich nicht nur im Schreiben, sondern sie vermittelte zugleich eine Lektion für das Leben insgesamt: Sie zeigt sehr deutlich, dass wir stets wählen können, aus welchem Blickwinkel wir die Welt betrachten. Unsere Umgebung ist voll von positiven und negativen Eindrücken – und es ist unsere Entscheidung, welche wir davon wahrnehmen.
     
    Ich habe meinem Vater einige Episoden aus diesem Buch erzählt. Daraufhin nahm er sich die Zeit, um mit seinen 83 Jahren über die wichtigsten Erkenntnisse in seinem Leben nachzudenken. Trotz seiner inzwischen abgesicherten Lebenssituation war sein Weg dorthin alles andere als vorbestimmt. Im Alter
von acht Jahren kam er in die Vereinigten Staaten, wohin er mit seiner Familie in den 1930er-Jahren aus Deutschland geflohen war. Sie trafen im wahrsten Sinne des Wortes mit leeren Händen ein: Mein Vater sprach kein Wort Englisch und seine Eltern konnten sich den Unterhalt ihrer beiden Kinder anfangs finanziell nicht leisten. Daher mussten die zwei trotz der Verständigungsschwierigkeiten so lange bei Verwandten leben, bis die Eltern genug Geld hatten, um die Kinder zurück nach Hause zu holen. Von diesem bescheidenen Ausgangspunkt hat mein Vater sich ein Leben und eine Berufslaufbahn aufgebaut, die wirklich beeindruckend sind. Er ist schließlich als Generaldirektor und Geschäftsführer eines multinationalen Konzerns in den Ruhestand getreten.
    Als er über sein Leben nachdachte, stellte mein Vater fest, dass seine wichtigste Erkenntnis darin besteht, dass man sich weder selbst zu ernst nehmen noch zu streng über andere urteilen sollte. Er wünschte, er wäre seinen eigenen Fehlern und denen anderer Leute gegenüber toleranter gewesen und hätte Fehlschläge als einen normalen Teil des Lernprozesses angesehen. Heute weiß er, dass die meisten Fehler, die wir machen, kein Weltuntergang sind, und er erzählte mir auch, wodurch ihm das klar wurde. Zu Beginn seiner Berufslaufbahn war er bei dem Medienunternehmen RCA beschäftigt, der Radio Cooperation of America . Damals arbeitete er mit seinem Team an einem Projekt, das nicht recht funktionierte. Mein Vater und seine Kollegen bemühten sich tagelang rund um die Uhr darum, die Probleme zu beheben. Über Wochen waren sie voll und ganz mit der Suche nach einer Lösung beschäftigt. Kurz nachdem sie das Projekt dann erfolgreich abgeschlossen hatten, wurde das gesamte Programm gestrichen. Obwohl dieses eine Projekt für sie

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