Leben (German Edition)
hießen Gertraute und Elisabeth, Namen, die mir zwischen all den Heikes und Tanjas sehr sonderbar vorkamen, unpassend für Schülerinnen meines Alters, Namen, die zu strengen Erzieherinnen in Waisenhäusern paßten, dachte ich, nicht aber in unsere Klasse. Ich erinnere mich nicht daran, während der vier Grundschuljahre auch nur einmal mit ihnen geredet zu haben, ich glaube, niemand hat mit ihnen geredet, und selbst haben sie nie den Mund aufgemacht. Die hübschere, die Elisabeth hieß, trug ihr langes, blondes Haar immer zu zwei Zöpfen geflochten und hatte wochenlang dasselbe Kleid an, darunter immer dieselbe Wollstrumpfhose. Ich habe damals nicht bemerkt, wie hübsch sie war, sie sah ja aus wie von einem anderen Planeten.
217
Eines Nachts, das Bett hat schließlich Räder, rolle ich über zugefrorene sibirische Ströme nach Süden, ich rolle über Schlammpisten, bleibe in Schneeverwehungen stecken und komme in eine Verkehrskontrolle, weiß aber, daß Polizisten in Sibirien nur eine Flasche Wodka kosten, ich fahre durch die Taiga, bis mein Motor stöhnt und immer lauter stöhnt, ich wache auf. Mein Bettnachbar stöhnt, als wäre er seine eigene Beatmungsmaschine, sein Atem rasselt, er röchelt, schnaubt kurz auf, japst nach Luft, bevor er schön gleichmäßig weiterstöhnt.
Am nächsten Morgen sagt er, er sei in seiner dreizehnten пятилетка. Pjatiletka, das muß er mir erklären, ist das russische Wort für Fünfjahresplan. Und ich rechne zehn mal fünf und drei mal fünf und addiere die Zwischensummen, wozu ich, das Krankenhaus hat mich langsam gemacht, fast zwei Minuten brauche. Eigentlich sieht er älter aus. Er spürt wohl, daß ich so etwas denke, und sagt: Zeit kommt schnell bei uns in Rußland.
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Jede Nacht kommt die Nachtschwester herein, kontrolliert die Zimmer, schaut nach der Infusion, prüft, ob wir brav in unseren Betten liegen und unsere Medikamente genommen haben. Sie fragt, ob wir vielleicht ein Schlafmittel brauchen. Zimmerkontrolle, wie im Internat.
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Einmal, ich war selbst noch Schüler, habe ich mich bei Katja im Internat einsperren lassen, um bei ihr zu übernachten. Kurz vor Ende der Besuchszeit schleuste sie mich hinauf in ihr Zimmer, das sie sich mit einer Klassenkameradin teilte, ich setzte mich, bevor der Kontrollgang des Erziehers begann, in ihren Kleiderschrank. Da saß ich dann wie Hanni und Nanni auf Burg Schreckenstein oder, der Vergleich gefällt mir besser, wie der junge Raymond Federman während der Besatzungszeit in Paris, nachdem die Mutter ihn in einen Schrank auf dem Flur geschubst hatte. Nur stand vor meinem Schrank nicht die französische Polizei, die meine Eltern verhaftete, sie ins Vélodrome d’Hiver fuhr und von uns Deutschen nach Auschwitz deportieren ließ, da stand bloß ein Erzieher, der die Mädchen fragte, ob alles in Ordnung sei. Was sie brav bejahten, brav tun konnte Katja gut. Kurze Zeit später klopfte sie gegen die Schranktür, und ich kam heraus, woraufhin die Mitbewohnerin sich zu ihrer Freundin in ein anderes Zimmer schlich. Katjas Bett war, daran erinnere ich mich, schmal.
Bald danach, sie war noch nicht aus dem Internat geflogen, fuhren wir zusammen nach England. Die Reise fing damit an, daß ihre Mutter uns nach Köln zum Hauptbahnhof brachte, sie wollte uns in den Nachtzug nach London steigen sehen. Daß wir nur Fahrkarten bis Aachen hatten und von dort aus trampen wollten, wußte sie nicht. Auf dem Bahnsteig wurde Katja mit der Bitte verabschiedet, sich im Ausland nicht auf schmutzige Toiletten zu setzen, schmutzige Toiletten waren ihre größte Sorge, sie hatte leider keine Ahnung.
Drei Jahre später, ihre Ausbildung in einem Gartenbaubetrieb hatte sie abgebrochen und den Plan, Landschaftsarchitektin zu werden, aufgegeben, beschloß Katja, einem Drogenbekannten dabei zu helfen, achthundert Kilogramm Haschisch von Spanien über die Pyrenäen zu schmuggeln. In einem Wohnmobil fuhren sie bis zur Grenze und wurden kontrolliert – den französischen Zollbeamten war aufgefallen, wie tief der Wagen auf der Straße lag. Katja wurde wegen Beihilfe verurteilt und saß fast zwei Jahre in einem französischen Gefängnis.
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Jede Schwester hat ihre eigene Art, mit Patienten umzugehen. Die eine fällt durch fast übertriebene Freundlichkeit auf, die andere legt eine interessante, gerade noch sympathische Ruppigkeit an den Tag, eine dritte ist stets streng, klar, konkret und wenig persönlich. Noch eine andere erzählt mir eines Nachts,
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