Leben (German Edition)
stelle ich mir vor, es läge etwas ganz anderes darunter, eine große Überraschung. Eine Blume. Ein Buch. Ein abgeschnittener Finger, ein frisches Herz.
Und dann? Ein quadratisches Stück Gemüselasagne liegt auf dem Teller, der Unterteilungen für die Beilagen hat, ein Stück Spinatblatt ragt zwischen den weichgekochten Teigplatten hervor. Schön sieht das nicht aus, der Spinat erinnert an Algen, und ich träume auf einmal von all den Mahlzeiten, die ich je gegessen habe, von den Mohnnudeln, den Marillenknödeln und den Scheiterhaufen aus im Obstgarten von mir selbst gepflückten Klaräpfeln, den Hascheeknödeln, den Kraut- und Schinkenfleckerln und all den anderen Gerichten meiner Großmutter in Österreich.
Haben Sie Ihre Essenskarten ausgefüllt?, unterbricht der Pfleger meine Träumerei. Jeden Tag die gleiche Frage. Ja, habe ich. Natürlich. Ich habe gewählt zwischen Butter und Margarine, zwischen Honig und Marmelade, habe mich für eine zweite Schrippe statt einer Scheibe Mischbrot entschieden, dazu Obst. Essen I, Essen II, Schonkost, weitere Varianten, wie früher in der Mensa.
Ich könnte ja mal, auch eine Antwort, mein Tablett zu Boden werfen. Ein Mittagessen in Frankreich fällt mir ein, vor vielen Jahren, Schüleraustausch bei einer Gastfamilie, da rutschte ich mit dem Messer auf dem Fleisch ab und schleuderte das Steak und fast alle Pommes frites, die auf meinem Teller lagen, in hohem Bogen auf den Boden. Die beiden Kinder fingen an zu lachen, dann krochen und krabbelten wir gemeinsam über den Teppich, sammelten mein Essen wieder auf. Der Hund, der schläfrig unter dem Tisch gelegen hatte, war als erster beim Fleisch.
204
Die Mandelaugenärztin hat wieder Dienst. Sie trägt Turnschuhe der Marke Onitsuka Tiger und glitzernde Ohrringe, lachend gibt sie mir die Hand. Sie hat keine Angst, mich zu berühren, desinfiziert sich dann aber die Hände. Ist mir auch lieber so.
205
Ich bin runter, Zeitung holen, sagt mein Bettnachbar und ist schon zur Tür hinaus. Ich hoffe, er bleibt nicht in einem selten benutzten Aufzug stecken wie der Patient in einem anderen Berliner Krankenhaus, der erst nach drei Tagen gefunden wurde. Da hatte er schon angefangen, seinen eigenen Urin vom Aufzugsboden aufzulecken. Der Mann drückte den Alarmknopf, hämmerte gegen die Kabinenwand, schrie, aber niemand hörte ihn. Kein schöner Tod, denke ich, in einem Krankenhausaufzug zu verdursten.
Später erzählt mir mein Bettnachbar von einem Mann, der sich in einem Krankenhaus verlief und erst fünf oder sechs Tage später tot in einem leerstehenden Technikraum gefunden wurde. Seine Angehörigen hatten schon überall auf dem Klinikgelände Zettel mit Fotos von ihm aufgehängt. Er hatte bloß eine Zigarette rauchen wollen. Rauchen, sagt mein Bettnachbar, gefährdet eben die Gesundheit.
206
Es kribbelt, alles bewegt sich. Was krabbelt da nachts wie Ameisen in mich herein? Aus mir hinaus? Einmal kamen die Ameisen aus dem Garten in mein Kinderzimmer. Ich hatte zu viele Süßigkeitenpapiere in der Schublade einer Kommode liegengelassen.
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Die Medizinstudentin, die diesmal bei der Visite dabei ist, trägt ihr blondes Haar am Hinterkopf halb zusammengesteckt, kleine rote Dreiecke aus Holz baumeln von ihren Ohrläppchen, sie lächelt und lacht über eine leichte Unsicherheit hinweg. Sie gefällt mir, wie mir eine Klassenkameradin, Daniela, gefallen hat, die in der zehnten Klasse eine Zeitlang neben mir saß, sitzengeblieben, nein, nicht sitzengeblieben – sie war während des Schuljahrs in unsere Klasse zurückgestuft worden, eine Maßnahme, mit der engagierte Eltern ihrem Kind die Demütigung des Sitzenbleibens ersparen konnten, auch wenn sie letztlich auf dasselbe hinauslief. Mitten im Schuljahr kam sie in unsere Klasse und saß in Französisch, mittwochs und freitags siebte Stunde, neben mir. Und weil ich mich langweilte, fing ich an, ihr Zettelchen zu schreiben, kurze Briefe, dummes Zeug, und obwohl Französisch mich damals überhaupt nicht interessierte, brachte ich sie dazu, mir Nachhilfe zu geben. Dabei war es gar nicht so, daß ich Nachhilfe nötig gehabt hätte; vielmehr, so lautete die unausgesprochene Abmachung, spielten wir Nachhilfe, ich gab den Schüler und sie, ein Jahr älter als ich, die Lehrerin, nachmittags, zu Hause bei ihr. Ich fuhr mit dem Fahrrad hin, sie empfing mich an der Haustür und bat mich zum Unterricht an einen großen, schweren Eichentisch im dunklen Eßzimmer. Beim ersten Mal dauerte die
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