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Leben (German Edition)

Leben (German Edition)

Titel: Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Wagner
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Nachhilfe wie vereinbart fünfundvierzig Minuten, beim zweiten Mal nur noch eine knappe halbe Stunde. Später lagen wir in ihrem Zimmer auf dem Teppichboden – Musik können wir kaum gehört haben, sie hatte nicht mehr als vier oder fünf Platten, aber das war mir, die Hand in ihrer Unterhose, ganz egal. Ich nahm ihr Kassetten auf, Mixkassetten mit Liedern von Joy Division, den Smiths, The Fall und den Stranglers, die sie dann, wie ich vermutete, niemals hörte. Immer war sie auf eine merkwürdige Art aufgeregt, immer hatte sie eine Aufregungsröte im Gesicht, als ob sie jederzeit mit ihrem Vater rechnete, dem ich nie begegnet bin. Nach der zehnten Klasse wechselte sie die Schule, und ich verlor sie aus den Augen. Ich weiß nicht, wo sie heute wohnt.

208
    Zum ersten Mal, seit ich in diesem Zimmer liege, bemerke ich die beiden Bilder an der Wand mir gegenüber, ich muß mich loben, über Wochen hinweg hier zu liegen und die beiden Kunstdrucke von Marc Chagall nicht einmal zu bemerken, auch eine Leistung. Nun sehe ich einen Blumenstrauß, sehe sich umarmende Paare. Ich mag Chagall nicht, blöder Kitsch mit Geigen, aber während ich das denke, stelle ich fest, daß die Bilder mich nicht stören. Die Farben erinnern an die der Wände in den Röntgenräumen und an die der Besucherkittel auf der Intensivstation, Blaßblau und Uringelb. Blaßblau und Uringelb sind, finde ich mittlerweile, schöne Farben.

209
    In den Kinderstationen, auf denen ich gelegen habe, hingen überall, wie ich damals fand, schreckliche Kinderzeichnungen, Krikelkrakel, Krakeleien. Dreizehn-, Vierzehnjährige finden die nicht so toll, nicht mehr und noch nicht wieder. Erst die Krakelbilder der eigenen Kinder sind wieder wichtig – ich hebe sie alle auf.

210
    Eines Tages, noch in Bonn, ich lag in der Kinderklinik an der Adenauerallee, gleich neben dem Auswärtigen Amt, kam ein Mädchen von der anderen Rheinseite mich besuchen. Wir hatten uns beim Zelten kennengelernt und zwei- oder dreimal geschrieben, ich wußte nicht, wie oder von wem sie erfahren hatte, daß ich im Krankenhaus lag, die Kinderklinik war mir peinlich, immerhin war ich schon sechzehn Jahre alt. Das Fenster des Zimmers, ich hatte es für mich allein, ging hinaus auf den Rhein, am Ufer gegenüber und etwas stromaufwärts erhob sich das Siebengebirge. Sie erzählte, sie sei mit der Bahn aus Königswinter gekommen, und natürlich, ich fragte sie danach, kannte sie den Parkplatz, von dem aus die RAF die Amerikanische Botschaft am gegenüberliegenden Godesberger Ufer beschossen hatte, das war damals noch nicht lange her. Sie saß da, ganz nah an meinem Bett, und hielt meine Hand. Sie hatte sehr blaue Augen, unwahrscheinlich blaue Augen, blaue Augen, wie ich sie nie wieder gesehen habe.

211
    Ich blättere in einem älteren Notizbuch, das in einem Seitenfach meiner braunen Reisetasche lag, offenbar hatte ich es da vergessen. Ich lese, im Krankenhaus liegend, Notizen übers Krankenhaus, diese Notizen habe wohl ich gemacht, die Schrift sieht aus wie meine. Immer wieder lese ich das Wort Krankenhaus , eigentlich möchte ich das Wort Krankenhaus nie wieder hören, schreiben oder lesen, ich möchte es nicht einmal mehr denken – aber weil ich schon weiß, daß ich das Wort Krankenhaus noch sehr oft werde hören und sagen müssen, versuche ich, mich abzustumpfen, ich sage leise: Krankenhaus, Krankenhaus, Krankenhaus, ich versuche, mich zu immunisieren, Krankenhaus, Krankenhaus, Krankenhaus, ich spreche dieses Wort so oft, bis es gar nichts mehr bedeutet, Krankenhaus, ach Krankenhaus. Klinik oder Klinikum klingt auch nicht besser.
    Im Krankenhaus, so mein Bettnachbar und Zimmerkamerad, er hat mich murmeln hören, seien wir dazu verdammt, zu liegen und zu warten, bis es besser wird. Oder richtig krank zu werden. Deshalb heiße es «Krankenhaus».

212
    Ich schaue aus dem Fenster, sehe den Kanal und denke wieder einmal, ich würde gern aufstehen, mich anziehen und mit dem Aufzug hinunterfahren, würde gern durch den Südausgang zum Kanal gehen und am Kanal entlang Richtung Lehrter Bahnhof wandern. Aber den Lehrter Bahnhof gibt es gar nicht mehr, der Bahnhof, der heute da steht, wird Hauptbahnhof genannt.
    Eine der älteren Schwestern hat mir erzählt, das Gelände hier sei einmal eine Sandfläche gewesen, auf der kein Baum gestanden habe, ein Exerzier- und Artillerieübungsplatz, eine kleine Wüste, aber dann sei eine Gartenstadt für Kranke darauf entstanden, erbaut von Ludwig Hoffmann nach

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