Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leben (German Edition)

Leben (German Edition)

Titel: Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Wagner
Vom Netzwerk:
Blutung vor. Der Magen ist mit Koageln gefüllt, unzureichende Beurteilung.
Therapie: In einer Höhe von 34 cm bis 39 cm von der Zahnreihe werden sechs Gummibandligaturen gesetzt, die Blutung kommt unter endoskopischer Therapie zum Stillstand.

1
    Ich wache auf und weiß nicht, wo ich bin. Ein Schlauch steckt in meiner Nase, frische, kühle Luft, Bergluft mit Beigeschmack, strömt in mich herein. Ein halbvereister Waldbach gluckert zwischen hohen Tannen, weißgefrorene Gräser glitzern in der Sonne – offenbar male ich mir ein Kalenderbild aus. Ich höre Gestöhne und ein Stimmendurcheinander, höre es tropfen und rauschen und spüre eine Hand an meinem linken Oberarm, sie packt zu, ja, halt mich, halt mich fest – und läßt dann doch wieder los. Es ist keine Hand, merke ich bald, es ist ein automatisches Blutdruckmeßgerät mit einer Manschette, die sich jede Viertelstunde aufbläst, den Blutdruck mißt, ihn aufzeichnet und dann wieder erschlafft. Hört sich an, als puste jemand in eine Luftmatratze. Auf dieser Luftmatratze treibe ich aufs Meer.

2
    Sie stehen am Ufer und winken. Sie warten auf mich, sie haben sich eingefunden, meine Mutter, meine Großmutter, Rebecca, Alexandra, mein Großvater in Uniform und meine Urgroßeltern, die ich nicht auf den ersten Blick erkenne, weil ich sie nie zuvor gesehen habe. Sie sind gekommen, um mich zu begrüßen, sie stehen am Strand und winken, ja, tatsächlich, ich höre sie schon rufen, sie rufen: Willkommen, da bist du ja – dann aber bricht eine größere Welle und wirft mich nicht auf den Strand, wie ich es erwartet hatte, nein, eine Unterströmung zieht mich wieder hinaus aufs Meer, weit hinaus, rasch verliere ich das Ufer aus den Augen.

3
    Ich öffne die verkrusteten Augen, alles ist verschwommen. Ein Raum voller Farbflecken – das aber, fällt mir ein, könnte daran liegen, daß ich meine Brille nicht trage. Keine Ahnung, wo die geblieben ist. Einige Dinge kann ich trotzdem erkennen, ich muß die Augen nur leicht zusammenkneifen: Rechts befindet sich ein Fenster, links eine Tür, die Tür steht offen. Sehr viele Apparate um mich herum, Kabel, drei oder vier Monitore, ich höre ein Piepen. Kommandozentrale? Mir gefällt mein Raumschiff, ich bin so leicht, schwerelos, ich kann fliegen.

4
    Hell ist es oben über der Stadt, ich schwebe und schaue hinab. Ich sehe und weiß auf einmal alles wieder, ich habe nichts vergessen. Die Flachdächer der Klinik, die weißen Kiesel, der Kanal, das Kraftwerk und die Gleise, all das kann ich sehen, ich liege, ich fliege über der Stadt – erst nach Minuten, Stunden oder Tagen muß ich zurück in meine Haut, in dieses Bett.

5
    Ach was, ich liege nicht auf dem Friedhof, ich liege nicht in der Erde. Es wird hell und dann wieder dunkel. Ich liege in einem Bett im Krankenhaus, in einem Bett auf Rädern, ich kann hinausgeschoben werden. Drehe ich meinen Kopf, sehe ich den Himmel. Heute ist er weiß, kahle Birkenzweige hängen in den Vordergrund. Das Fenster ist gekippt, die kalte Luft riecht frisch und süß, ich höre Vögel, sie tschilpen vielversprechende Geräusche. Ein Sonnenstrahl bricht durch die Wolkendecke, auf der anderen Seite des Geländes, hinter der roten Ziegelmauer, jenseits der Seestraße, liegt, ich war schon dort, ein Friedhof.

6
    Mir wird der Rücken gewaschen, mir werden die Zähne geputzt. Ich muß nichts tun, ich muß nur liegen. Ich muß nicht einmal essen, eine Schwester bringt mir Astronautennahrung, Flüssigmahlzeiten, die alles enthalten, was ein Körper braucht. Der Astronautentrunk schmeckt nach Banane. Und nun weiß ich es, weiß ich es ganz genau: Dieses Zimmer ist wirklich mein Raumschiff, und ich bin unterwegs zum Mars. Mindestens bis zum Mars. Das müßte selbst bei einer günstigen Konstellation der Umlaufbahnen fast ein Jahr dauern. Oder länger. Ich stelle mich darauf ein, ich bleibe.

7
    Meine Brille ist wieder da. Ich setze sie auf, schaue mich um und setze sie wieder ab. Ich glaube, ich möchte das alles nicht so genau sehen.

8
    Ich frage nach B. und höre, er sei nicht da, er habe Urlaub. Ein Gastroenterologe kommt ins Zimmer und berichtet, wie es gelungen ist, die Varizenblutung zu stoppen. Es wurde endoskopisch ligiert, das heißt, mir wurde ein Schlauch in die blutende Speiseröhre geschoben, in dem Schlauch befand sich eine Apparatur, durch die sich Gummiclips auf die geplatzten Krampfadern setzen ließen, so wurden die blutenden Krampfadern abgeklemmt. Ich hatte Glück, es gibt diese

Weitere Kostenlose Bücher