Leben im Käfig (German Edition)
aus seinen Gliedern wich und einzig Sorgen auf einem realistischen, normalen Niveau zurückließ.
Als das Beben in seiner Seele nachließ, atmete er tief ein und aus, flüsterte ein stummes „Danke“ in Saschas Richtung, der gar nicht wusste, wie weit er ihm mit seiner reinen Existenz geholfen hatte. Mit dem Wissen, dass sie bald wieder zusammen sein würden.
Nur das Dilemma, dass Andreas innerhalb seiner eigenen vier Wände in Panik geraten war, blieb bestehen.
Kapitel 43
„... kommen wir für heute zum Ende. Schönes Wochenende. Aber tun Sie sich selbst den Gefallen und marinieren Sie Ihr Gehirn nicht in Alkohol. Ihre Reifeprüfung rückt näher. Schauen Sie lieber in die Bücher.“
Achtundachtzig Stuhlbeine scharrten über den zerkratzten, von schmutzigen Fußabdrücken übersäten Boden, als die Schüler des Leistungskurses synchron erleichtert aufsprangen. In einigen Gesichtern stand die ungetrübte Freude auf das Wochenende, in anderen der milchig-ungesunde Ausdruck aufsteigender Nervosität.
Sascha empfand mittlerweile seinerseits eine Spur von Sorge, wenn er an die nahenden Abiturprüfungen dachte. Als guter Schüler war er sich sicher, dass er sich keine Gedanken um Bestehen oder Durchfallen machen musste.
Doch er war nicht arrogant genug, um gar keine Zweifel zu haben. Oder um sich nicht zu fragen, was danach kam. Letzteres war wahrscheinlich das größere Problem.
„Sascha, kommen Sie kurz noch einmal zu mir?“, rief Herr Wallraff durch den Klassenraum.
Mit dem Verschluss seiner Jacke kämpfend nickte Sascha und schlängelte sich um die Schülerpulte nach vorne zum Schreibtisch seines Lehrers. Er machte sich keine Sorgen. Mittlerweile wusste er, dass sein Geschichtslehrer nach dem Unterricht gern das Gespräch mit seinen Schülern suchte, sich engagiert erkundigte, ob der Unterrichtsstoff verstanden worden war oder auch schon einmal fragte, ob es private Schwierigkeiten gab, wenn jemand unkonzentriert im Klassenraum hockte.
„Auf ein Wort, junger Mann“, begann der Lehrer mit gewohnt disziplinierter Miene. „Was machen Ihre Bemühungen sichtlich das Stoffs, den Sie nachzuholen haben?“
Augenblicklich spürte Sascha einen Hauch schlechten Gewissen gepaart mit nervöser Anspannung in sich hochsteigen.
Verlegen sah er in Richtung Tafel: „Ich bin nicht so weit, wie ich sein könnte.“
Lügen war nicht sein Stil, aber Untertreibungen waren etwas anderes. Glaubte er wenigstens. Dass er kaum über die ersten zwanzig Seiten der Ordner, die ihm zur Verfügung gestellt worden waren, hinausgekommen war, musste er nicht verraten.
Doch einem alten Lehrer, der seit über 30 Jahren leidenschaftlich für seinen Beruf und seine Schüler einstand, konnte er nichts vormachen.
„Ich will ehrlich zu Ihnen sein“, erklärte Herr Wallraff. „Sie können mehr, als Sie zurzeit leisten. Und Sie zeigen sich nicht als der Schüler, der Sie laut den Zensuren von Ihrer letzten Schule sein müssten. Sie erreichen locker die Klassenziele, aber mehr auch nicht. Was ist los mit Ihnen? Haben Sie Probleme? Schwierigkeiten, sich in Hamburg zurechtzufinden?“
Von der unverblümten Aufrichtigkeit des Lehrers getroffen trat Sascha instinktiv einen Schritt zurück, fragte sich, was er sagen sollte.
Sollte er zugeben, dass er zum ersten Mal in seinem Leben verliebt war und lieber mit seinem Freund zusammen war als über den Büchern zu kleben? Dass besagter Freund Schwierigkeiten hatte und Sascha sich oft Gedanken um ihn machte? Zu oft?
Oder dass seine Mutter sich in eine Gottesanbeterin verwandelt hatte, die ihre eigene Familie verschlang?
Dass er oft an seinem Schreibtisch saß und blicklos auf die Vorhänge vor den Fenstern stierte, während er sich den Kopf über seine kleine Schwester zerbrach, die ihm herzzerreißend unglückliche Emails schrieb?
„Ich habe ... ziemlich viel Stress mit meiner Familie“, fasste er die Probleme grob zusammen und gab zu: „Ich bin mit den Gedanken oft woanders.“
„Verstehe, ich dachte mir so etwas schon“, nickte Herr Wallraff. Eindringlich musterte er seinen Schüler aus kleinen, grauen Augen: „Das ist schlimm. Aber Sascha, Sie schreiben nur ein einziges Mal Abitur. Was immer Sie privat bedrückt, versuchen Sie es für ein paar Wochen beiseitezuschieben. Ein guter Numerus clausus ist wichtig für Ihre Zukunft, die Sie sich aufbauen möchten. Es wäre fatal, wenn diese Zukunft aufgrund von Schwierigkeiten im Jetzt anders aussieht, als Sie
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