Leben im Käfig (German Edition)
Führungskräften. Erklärte anhand komplizierter Diagramme die Vorgehensweisen der Zukunft. Und sie lachten. Lachten, weil er nackt war. Wohin sein edler Anzug und seine schwarzen Lederschuhe verschwunden waren, war ihm schleierhaft. Aber sie lachten, immer lauter, bis seine Ohren bluteten. Fliehen konnte er nicht.
Eine dicke Frau in einem geblümten Kleid beugte sich über ihn. Ihr Lippenstift war zu grell. Sie stank wie die Rosenblätter im Garten, die auf dem Erdboden zu faulen begonnen hatten. Sie säuselte, nahm ihn an der Hand und setzte ihn auf einen Stuhl, auf dem er ausharren musste, bis seine Eltern wieder Zeit für ihn hatten.
Während sie telefonierte, warf sie ihm strenge Blicke zu und drohte ihm zwischendurch, seinen Eltern zu sagen, dass er ein böser Junge gewesen war, wenn er sich rührte.
Andreas bebte. Er mochte die Firma nicht. Damals nicht und heute noch weniger. Sie erfüllte ihn mit Angst. Selbst mit dem Gesicht im Kissen konnte er den staubtrockenen Geruch der endlosen Gänge wahrnehmen, wich zurück, als fremde Männer ihm Löffel mit Joghurt hinhielten, den er nicht essen mochte, weil es ihm nicht gut ging. Hörte sie schimpfen, als er sich auf das weiße Linoleum des Labors erbrach. Seine Eltern, enttäuscht von seinem Versagen, hatten ihn mit der Limousine nach Hause geschickt.
Er war fünf Jahre alt gewesen. Fünf Jahre und krank. Danach hatte niemand gefragt. Niemand hatte ihn begleitet, um ihm einen Eimer hinzustellen und ihn ins Bett zu bringen.
Schwerfällig drehte Andreas sich auf den Rücken und versuchte, ruhig zu atmen.
Denk nicht darüber nach, beschwor er selbst. Denk an etwas Schönes. Schiebe es weg. Erinnere dich an gute Dinge. Dinge wie den Spielplatz, auf den Opa dich früher manchmal gebracht hat. Den hinter dem Elbstrand.
Aber mit der Erinnerung an die mit Sand verkrusteten Schaukeln und die herrliche Seilbahn fielen andere Bilder über ihn her.
Er selbst, der seine Eltern bat, mit ihm denselben Spielplatz zu besuchen, flehte, auf den Schoss seiner Mutter kroch und stets zu hören bekam: „Nicht, Andreas. Mama ist müde. Und geh von mir herunter. Du hast ja ganz schmutzige Finger. Geh ins Bad und wasch dich.“
Sicher hatte es Augenblicke gegeben, in dem seine Eltern seinen Bitten nachgegeben hatten. Natürlich. Es konnte nicht anders sein.
Aber warum erinnerte er sich nur an seine Enttäuschung, an das Gefühl, allein zu sein?
Warum sah er sich selbst in einem Zimmer – diesem Zimmer – zwischen Bergen aus Spielzeug sitzen und weinen? Zwischen verstreuten Puzzleteilen, Matchbox-Autos, traurig aussehenden Kuscheltieren, den Einzelteilen von „Sagaland“, „Fang den Hut“, „Scotland Yard“ und „Das verrückte Labyrinth“.
Achtlos weggeworfene Spielsteine in bunten Farben, die nie zum Einsatz kamen. Denn allein spielte es sich schlecht. Erst sein erster Game Boy hatte ihm Erleichterung beschert. Erleichterung und eine durch die Spielwelt hopsende Figur, die zu seinem besten Freund wurde.
Nein! Andreas richtete sich auf. Nicht diese Gedanken, nicht diese Erinnerungen, nicht das Gefühl, Super Mario näher zu sein als seinen Eltern.
Warum jetzt? Warum fluteten diese kindlichen Eindrücke in dieser Situation über ihn hinweg? Und wie brachte er sie zum Verstummen? Wie konnte er sie eindämmen, damit sie ihm nicht länger das Atmen erschwerten?
Er wollte nicht allein sein. Die Sehnsucht nach seinem Freund setzte als glühender Punkt hinter seiner Stirn ein und verteilte sich von dort aus in alle Himmelsrichtungen.
Sascha. Er brauchte Sascha um sich. Seinen Geruch, seine streichelnden Hände, seinen Mund, der ihn vergessen ließ. Seine Stimme, die flüsternd nach seiner Seele griff und sie zart umfasste, stabilisierte, ihn daran erinnerte, dass keinerlei reale Gefahr drohte.
Aber er konnte nicht anrufen. Nicht, wenn er die Kontrolle verlor und Sascha zu Tode erschreckte. Nicht, wenn der Unsinn in seinen Gedanken überhandnahm und er sich als Wrack präsentierte.
Er musste warten, bis es ihm besser ging. Oder bis er Sascha nicht mehr so verteufelt dringend brauchte. Guter Vorsatz zu Silvester hin oder her. In dieses Irrenhaus wollte er ihn nicht einladen.
Morgen war Freitag und Sascha hatte ihm versprochen, früh am Nachmittag zu kommen und lange, sehr lange zu bleiben. Darauf konnte er sich freuen. Andreas klammerte sich an diesen Gedanken, hielt sich daran fest, ließ sich davon beruhigen und merkt langsam, ganz langsam, wie die Angst
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