Leben im Käfig (German Edition)
seinen Redefluss.
Bildete Andreas es sich ein oder wirkte sein Freund betroffen? Sein Pulsschlag nahm zu, als Sascha das Gesicht zu einer Grimasse verzog und an ihm vorbei in Richtung des Familienporträts sah, das sie von seinem Platz an der Wand kühl beobachtete.
„Andreas.“ Sascha ballte die Faust und schlug damit zwei Mal leicht gegen die Schulter seines Freundes. Die Trompeten von Jericho hätten nicht zermürbender sein können. „Das geht nicht. Ich kann Silvester nicht mit dir verbringen. Ich habe Isa schon zugesagt – als DJ. Ich habe es ihr versprochen.“
Langsam, sehr langsam glitten Andreas' Arme an Saschas Körper ab. Seine Hände passierten das schmale Becken und ertasteten die griffige Textur der Jeans, während sein Kopf versuchte zu verarbeiten, was sein Herz längst begriffen hatte.
Abgeschmettert. Schon wieder.
Kein Sascha an Silvester. Keine Feier für zwei ins neue Jahr. Aber das konnte doch nicht sein.
Erschütternd sah Andreas in Saschas Gesicht, bemerkte, dass sich seine Lippen bewegten, aber hörte ihn nicht. Es war sein innigster Wunsch gewesen, dass sie die Silvesternacht zusammen verbrachten. Wichtiger als alle Weihnachtswünsche, weil der Jahreswechsel so viel bedeutsamer schien als die Mysterien der Christenheit.
Vor Andreas' innerem Auge flogen die Silvesterabende der vergangenen Jahre vorbei, an denen er stumm auf der Fensterbank gesessen und sich gefragt hatte, ob sich in den nächsten 365 Tagen etwas zum Besseren wenden würde.
Er erinnerte sich an die opulenten Feuerwerke über der Stadt und das Geschrei aus dem Fernseher, wenn die Fernsehstationen vom Brandenburger Tor in Berlin sendeten und die Meute Mitternacht entgegen fieberte. Er erinnerte sich an den Neid, den er jedes Mal empfunden hatte, wenn sie die Pärchen zeigten, die sich endlos küssten, ihre Nasen aneinander rieben und sich tief in die Augen sahen. Er hatte es sich gewünscht. Nur dieses eine Mal. Und Sascha hatte doch gesagt, dass ...
Egal. Andreas hatte das Bedürfnis, sich zu einer Kugel zu krümmen. Kein Tritt in den Unterleib konnte mehr wehtun als die Gewissheit, dass er mit seinen Wünschen allein war.
Es war schlimm genug, dass er zum ersten Mal seit Ewigkeiten gewagt hatte, einen Traum zu teilen und darauf zu hoffen, dass er Wirklichkeit werden könnte. Was seinen Qualen jedoch die Krone aufsetzte, war das Wissen, dass Sascha Silvester verplant hatte, ohne auch nur darüber nachzudenken, dass Andreas bei ihm sein wollte. Und ohne anders herum das Bedürfnis zu verspüren, bei seinem Freund zu sein, wenn die Uhr Mitternacht schlug.
So viel dazu.
Andreas' Kopf war wie leer gefegt. Es war zu viel. Er konnte nicht mehr.
Der Tanz zwischen Wagnis und Hoffnung, zwischen Enttäuschung und Resignation, zwischen zerschmetterten Erwartungen und dem Versuch, sich nicht unterkriegen zu lassen, hatte ihn ausgelaugt.
Erst von seinen Eltern allein gelassen werden. Sich dafür schämen. Ein schlechtes Gewissen wegen seiner Mutter haben. Sich bewusst machen, dass er ein egoistischer Dreckskerl war. Der tränenfeuchte Heiligabend, der ihm heftige Kopfschmerzen beschert hatte. Die Feiertage voller Lethargie und Einsamkeit. Saschas Erscheinen. Die Freude gefolgt von Vorwürfen und Zorn. Die Hoffnung. Der nächste Tiefschlag.
Niemand, niemand wollte mit Andreas zusammen sein. Seine Eltern nicht, sein Großvater nicht und sein Freund auch nicht.
Da hielt man ihn an, seine Sehnsüchte beim Namen zu nennen, ließ ihn seine Träume auf dem Silbertablett servieren, nur um hinterher zu sagen: „Oh, so hast du dir das vorgestellt? Tja, das kannst du vergessen. Ich habe andere Pläne. Bessere Pläne. Spannendere Pläne. Interessantere Pläne. Und du bist kein Teil davon.“
Er hatte keine Kraft mehr, um sich mit Sascha auseinanderzusetzen. Nicht, nachdem er seit Tagen tapfer seine Einsamkeit und seine Schuldgefühle, das Gefühl, verlassen worden zu sein, heruntergewürgt hatte. Außerdem wollte er sich nicht zum Narren machen, indem er bettelte oder erklärte, welchen Stellenwert Silvester für ihn hatte. Gesellschaft aus Mitleid brauchte er nicht. Wollte er nicht.
„Lässt du mich bitte allein?“
Andreas war selbst überrascht, wie sanft und gelassen seine Stimme klang. Gespenstisch.
Sascha fragte etwas, doch Andreas schüttelte nur mechanisch den Kopf und wiederholte seine Bitte. Als sich eine Hand auf seinen Unterarm legte, schreckte er zurück.
Als Sascha versuchte, ihm in die Augen zu sehen, fand er
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