Leben im Käfig (German Edition)
gesagt, dass du mich nicht wie einen Invaliden behandeln sollst. Vielleicht habe ich einen Vogel, aber ich liege nicht im Sterben, verdammt.“
Es klang hart, doch für Andreas war es kaum mehr als der klassische Disput, der bei jeder Gelegenheit zwischen ihnen losbrach. Außerdem war er mit den Gedanken zu weit fort, um sich über seine Mutter zu ärgern. Ein winziger Giftstachel blieb dennoch zurück; ausgelöst von der Überlegung, dass es Margarete von Winterfeld eigentlich gefallen müsste und sollte, dass ihr Sohn Initiative zeigte, statt faul bis zum Mittag im Bett zu liegen. Warum wollte sie ihn kränker machen, als er war?
Seine Mutter zuckte unter seinen Worten zusammen und sagte nichts mehr. Zum Abschied küsste sie ihn auf die Stirn. Andreas war versucht, den Kopf beiseite zu ziehen, verzichtete aber darauf. Er wollte nicht mit ihrem waidwunden Rehblick konfrontiert werden. Nachdem sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, machte er sich in Ruhe sein Frühstück.
Eine halbe Stunde und eine Schüssel Müsli, das eine innige Freundschaft mit einem Berg Zucker eingegangen war, später zog es Andreas wieder nach oben. Er versuchte, sein Zimmer mit den Augen eines Fremden zu sehen. Nein, er würde nichts verändern. Dafür waren ihm die eigenen vier Wände zu wichtig.
Aber er spürte einen ungewohnten Elan, seinen Käfig so wohnlich und bequem wie möglich zu gestalten. Der neu gewonnene Enthusiasmus griff unbemerkt auf andere Dinge über.
Als es Mittag war, hatte er seine Festplatten defragmentiert, mehrere Buchreihen umgeräumt und zu Ivanas Verwunderung sein Bett frisch bezogen. Nicht, dass es übel gerochen hätte, aber es hatte am Vorabend ein kleines Unglück mit einem Glas Apfelsaft in der Hauptrolle gegeben und klebrige Flecken auf der einzigen Sitzgelegenheit im Zimmer mussten nicht sein. Das Chaos in seinen Emails wurde sortiert und er machte sich die Mühe, einen Überblick über seine noch ausstehenden DVD-Bestellungen zu gewinnen.
Am Ende flogen reihenweise Kleidungstücke aus Schrank und landeten auf einem Haufen im Flur. Zerfetzte Shorts, löchrige Socken, T-Shirts, die grau statt schwarz waren, an den Schultern zu enge Hemden und Jeans, die ihm seit drei Jahren zu kurz waren, brauchte er nicht zu behalten. Auch mehrere Paare alter Turnschuhe fielen der Entrümpelung zum Opfer.
Als Andreas fertig war, war sein Schrank zur Hälfte leer und ihm wurde bewusst, dass er dringend neue Sachen bestellen musste. Dem sah er positiv entgegen, denn immerhin war es eine neue Aufgabe; auch, wenn er sie auf den nächsten Tag verlegte.
Zufrieden sah Andreas sich um. Jetzt konnte er einen Fremden guten Gewissens in sein Heiligtum lassen. Leider begann damit auch die unangenehme Zeit des Wartens. Er konnte nur hoffen, dass Sascha ihn nicht enttäuschte und vorbeikam. Vielleicht nicht heute, aber irgendwann.
* * *
Die Gasse war Zeuge einer längst vergangenen Zeit, in der nach weiblicher Aufmerksamkeit hungernde Seeleute vom Hafen in Richtung Reeperbahn strebten. Windschiefe Häuser aus dem vergangenen Jahrhundert und moderne Bauten wechselten sich ab.
Noch war es recht ruhig im Viertel. Einzig aus Richtung des Operettenhauses, in dem gerade eine Nachmittagsvorstellung zu Ende gegangen war, strömten ein paar Menschengruppen in Richtung der Parkplätze und S-Bahnstationen.
Die eigentliche Reeperbahn interessierte Sascha abgesehen von einer Art touristischen Neugier weniger als die Geschäfte in den Seitenstraßen außen herum. Die Griffe von mehreren Plastiktüten schnitten in seine Handfläche und erinnerten ihn an seinen mehr als erfolgreichen Einkauf.
Hamburg bot einem jungen Mann, der ausgefallene Sachen mochte, ganz andere Möglichkeiten als Nordhessen, wo es einzig in Kassel ein paar wenige interessante Geschäfte gab. Früher hatte er oft Kleidung im Internet bestellen müssen, was regelmäßig auf einen Affentanz hinauslief. Dauernd saß etwas nicht richtig, die Größen der kleineren Hersteller variierten stark, sodass er oft etwas zurückschicken musste. Da war es ungleich angenehmer, vor Ort im Laden seine neuen Hosen anzuprobieren – auch wenn das manchmal hieß, dass er auf ein besonders heißes Exemplar verzichten musste, weil er darin aussah wie ein Storch im Salat.
Einkauf hin oder her, wohlfühlte er sich nicht in seiner Haut. Er warf einen schiefen Blick zu Tanja, die gut gelaunt neben ihm herging. Sie hatte ihn begleitet – Sina und Fabian waren bei Freunden zum Spielen
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