Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
Europa auf revolutionäre Weise zusammenführte. Kein Fortschritt ohne Eisenbahn. Da, wo die Amstel ins IJ mündet und bisher der Blick frei war auf Schiffe und Hafen, wurde ab 1881 eine künstliche Insel angelegt. Auf ihr entstand mit neugotischen Türmen und Türmchen die Centraal Station, Amsterdams Hauptbahnhof. Die 307 Meter lange Fassade wurde das monumentale Entree einer Metropole, deren Fokus auf städtischen Glanz gerichtet war.
Noch bevor die ersten Touristen am Hauptbahnhof ankamen, hatte Adolph Wilhelm Krasnapolsky, Sohn eines polnischen Schneiders, sein beliebtes Pfannkuchen-Lokal im Jahre 1883 zur Weltausstellung in ein Luxushotel mit 125 Zimmern umgebaut. Heute zaubert im Café des Fünf-Sterne-Krasnapolsky der Mann am Klavier zur Tea-Time Vergangenheits-Flair für die Gäste, die dem Treiben auf dem Dam zuschauen. Ähnlich im Café des illustren American Hotel direkt am Leidseplein: Wer dort in schweren Holzstühlen sitzt, kann stimmungsvoll in die alte Zeit eintauchen, als der Bau mit seinem Interieur Aufsehen erregte – der eigenwillige Jugendstil war bei der Einweihung 1900 das Modernste an Architektur und Lebensart.
Reisen, im Café sitzen, ins Konzert oder Museum gehen: Freizeit ist ein Schlüsselwort der neuen Zeit, und mit ihr verknüpft ist ein anderes Phänomen – der Massensport. 1890 wurde erstmals im Winter die freie Fläche hinter dem Rijksmuseum geflutet und zu einer riesigen Eisbahn umfunktioniert, wo die Amsterdamer ihrem Lieblingssport frönen konnten. 1893 wurden auf dem IJ sclub-Terrain, wie der Platz von nun an hieß, die ersten Weltmeisterschaften im Schlittschuhlaufen ausgeführt.
Für viele Amsterdamer jedoch war freie Zeit ein äußerst knappes Gut. Der kleine Monne de Miranda aus dem Judenviertel musste es früh im Leben erfahren. Er war ein schmächtiger Junge, der Raufereien mit Gleichaltrigen aus dem Weg ging. Aber er blühte auf, als er mit sechs Jahren in die kostenlose öffentliche Grundschule ging. Im Viertel um Nieuwe Kerkstraat und Weesperplein kamen rund 95 Prozent der Schulkinder aus jüdischen Familien, die sich kein Schulgeld leisten konnten. Wie das Gesetz es für alle öffentlichen Schulen in den Niederlanden vorschrieb, fiel der Unterricht am Samstag, dem jüdischen Schabbat, aus, wenn über fünfzig Prozent der Kinder jüdischen Glaubens waren.
Monne de Miranda, der drei ältere Geschwister hatte, sieben jüngere kamen noch hinzu, war lernbegierig und saß auch nach dem Unterricht gerne hinter seinen Büchern. Um so größer war der Schock, als der Elfjährige eines Tages im Frühjahr 1886 gut gelaunt nach Hause kam und der Vater ihm mitteilte, er habe für ihn einen Lehrvertrag in einer Diamantschleiferei unterschrieben. Am nächsten Tag schon sollte Monne um fünf Uhr morgens aufstehen, um von sechs Uhr bis um sechs Uhr abends in der Fabrik zu arbeiten. Tränen und Bitten halfen nichts, auch nicht die Fürsprache der Mutter. Der Vater war arbeitslos, es musste Geld ins Haus kommen.
Wenngleich arm und ohne Arbeit, verlor der Vater nicht den ausgeprägten Stolz auf seine jüdischen Vorfahren, die einst aus Portugal und Spanien nach Amsterdam eingewandert waren. An der Amstel wurden sie vereinfachend »portugiesische Juden« genannt oder Sefarden, weil Sefarad im Mittelalter die jüdische Bezeichnung der Iberischen Halbinsel war. Monne de Mirandas Vater wachte rigoros darüber, dass seine Frau und die Kinder alle Vorschriften einhielten, die der jüdische Glaube verlangte. Der kleine Monne hatte keine Wahl: Er musste jedes Ritual vollziehen, lernte die Gebete auf Hebräisch; an jedem Schabbat und Feiertag ging er mit dem Vater in die Synagoge. Es ist an der Zeit, noch einmal ins Goldene Jahrhundert der Niederlande zurückzukehren, als die Geschichte der Amsterdamer Juden begann.
Im Jahre 1492 waren durch königliches Dekret alle Juden aus Spanien vertrieben worden; 1497 mussten sich in Portugal alle Juden zwangstaufen lassen und wurden »Neue Christen«. Ab Mitte des 16. Jahrhunderts wurden auch die Neuen Christen verfolgt, gefoltert, ermordet. Als 1568 der Unabhängigkeitskrieg zwischen den spanisch-habsburgischen Herrschern und den sieben niederländischen Provinzen ausbrach, hatten die Neuen Christen – portugiesische Kaufleute, die mit Waren aus aller Welt handelten –, ein gutes Gespür für die wirtschaftlichen Potentiale in den Städten der calvinistischen Rebellen, die auch für »Religionsfreiheit« in den Kampf gegen den katholischen
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