Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
aber das empfanden sie nach allen Erfahrungen, die ihnen seit Generationen unter der Haut steckten, als Kleinigkeiten.
Als man 1805 erstmals Statistiken über alle Einwohner Amsterdams aufstellte, lebten rund siebzig Prozent der Juden in Elendswohnungen im »Jodenhoek«. Doch nie kam es der christlichen Stadtverwaltung in den Sinn, die armen Juden aus der Stadt zu weisen, wie es im aufgeklärten 18. Jahrhundert in Europa üblich war. Dafür hatten die Niederlande nach dem Vorbild der Französischen Revolution im September 1796 ein Emanzipations-Dekret verabschiedet, das die »Gleichheit der Juden mit allen anderen Bürgern« festschrieb – und nie mehr bestritten wurde. Alle Juden waren nun »Niederländer israelitischen Glaubens«.
Als mit der Industrialisierung wieder eine neue Zeit anbrach, hatten die christlichen Bewohner der Hauptstadt längst die zärtliche Namensnennung übernommen, mit der die Juden ihr Amsterdam bedachten: Mokum. Im Hebräischen bedeutet makom Ort, Stadt. Für die Juden, die aus fernen Heimaten dorthin flüchteten, war Amsterdam längst DER Ort geworden, geliebtes Zuhause. Bis heute ist es ein Code-Wort für stolze Heimatliebe, wenn Amsterdamer sagen: Ich bin aus Mokum.
Für die Familie De Miranda im Judenviertel war Amsterdam Heimat, verbunden mit dem Stolz auf ihre sefardischen Vorfahren. Der junge Monne de Miranda aber machte die Erfahrung, dass die jüdischen Arbeiter sich von der Vergangenheit emanzipieren mussten, um eine bessere Zukunft zu erleben. 1886 hatte der Elfjährige, der so gerne weiter auf die Schule gegangen wäre, auf Befehl des Vaters eine Lehre als Diamantschleifer begonnen. Nach sechs, sieben Jahren war die Lehrzeit vorbei und Monne de Miranda einer von 10 000 Diamantschleifern in der Hafenstadt, die nach Ansehen und Verdienst in der Arbeiterklasse den obersten Rang einnahmen. Das änderte nichts daran, dass selbst ihre Arbeitsumstände, Bezahlung und die Absicherung bei Unfall oder Krankheit miserabel waren im Vergleich zum Gewinn der Unternehmer. Die große Mehrheit, rund 7000 Schleifer, waren Juden, die in jüdischen Betrieben arbeiteten. Ungefähr 3000 von ihnen waren Christen, die meisten lebten und arbeiteten im Jordaan, dem Arbeiterviertel westlich vom Grachtengürtel.
1894 solidarisieren sich Tausende von jüdischen Arbeitern mit christlichen Diamantschleifern, die für einen Mindestlohn streiken. Zusammen ziehen sie in einer gewaltigen Demonstration quer durch Amsterdam, mittendrin Monne de Miranda. Schon am nächsten Tag wird die Streikforderung erfüllt.
Die Erfahrung, wie stark ein gemeinsamer Kampf macht, führt wenige Tage später zur Gründung vom Allgemeinen Niederländischen Diamantarbeiter-Bund – ANDB . Jüdische und christliche Arbeiter bilden zusammen die erste moderne niederländische Gewerkschaft. An der Spitze der Gewerkschaft steht ein jüdischer Diamantschleifer, der sechsundzwanzigjährige Henri Polak, eine charismatische Persönlichkeit. Nur zwei Monate zuvor, im August 1894, hatte er zu den Mitbegründern der niederländischen Sozialdemokratischen Arbeiter-Partei, SDAP , gehört, deren politisches Programm nach dem der deutschen Sozialdemokraten ausgerichtet war. Polak hatte früh mit dem orthodoxen Glauben seines Elternhauses gebrochen, ohne sein Judesein zu leugnen. Er sah keinen Widerspruch darin Jude, Sozialist und Niederländer zu sein.
Weil Henri Polak beim ANDB und der SDAP streng auf konfessionelle Neutralität achtete, schuf er eine neue Heimat für Monne de Miranda und Tausende von jüdischen Proletariern, die eine bittere Erfahrung machten: Die Führer der jüdischen Gemeinden in Amsterdam – Unternehmer, Bankiers, Kaufleute – bekämpften zusammen mit den Rabbinern die sozialen Bewegungen, die für die Rechte und Lebensverbesserungen aller Arbeiter eintraten.
Bald nach ihrer Gründung wurde Monne de Miranda, er war um die zwanzig Jahre alt, Mitglied bei den Sozialdemokraten und in der Gewerkschaft. Um diese Zeit brach auch er mit dem Glauben, in dem sein Vater ihn erzogen hatte; entschlossen, nie mehr einen Fuß in eine Synagoge zu setzen. Sich von der väterlichen Autorität zu emanzipieren und von einem Glauben, der im Stolz auf die Vergangenheit erstarrt war, wurde Monne de Miranda wie vielen seiner Glaubensgenossen außerordentlich erleichtert, weil sie nicht allein standen in ihrem Herkunftsmilieu. Sie waren keine Einzelkämpfer. Am Arbeitsplatz, in der Gewerkschaft, in der sozialdemokratischen Partei trafen
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