Lebenschancen
werden. Dass bürgerliche Werte inzwischen auch von diesen Gruppen vertreten werden, kann man schwerlich bestreiten. Immerhin haben sich viele Arbeitermilieus erkennbar entproletarisiert, und auch der Welt der Angestellten ist die Miefigkeit, die wir aus den Werken Kafkas kennen, abhanden gekommen. Dass die Arbeitnehmerschaft jedoch insgesamt bürgerlich geworden ist oder umfassend von diesen Werten angeleitet wird, darf bezweifelt werden. Herfried Münkler hat deshalb mit Recht hervorgehoben, die Vorstellung einer gesellschaftlichen Mitte als abgeschlossener sozialer und politischer Einheit sei irreführend. Die Mitte ist ein Ensemble von Schichten, Soziallagen und Milieus, »in denen es kein einheitliches Ethos mit entsprechenden Werten und Normen mehr gibt, sondern materialistische und postmaterialistische, pflichtorientierte und hedonistische Grundeinstellungen nebeneinander existieren« (Münkler 2010: 43). Die Mittelschicht weist also keinen einheitlichen und klar abgrenzbaren »sozialen Kollektivhabitus« auf (Lessenich 2009: 268), obwohl er ihr in vielen Debatten mitunter zugeschrieben wird. Man liegt vermutlich dennoch nicht falsch, wenn man ein verbreitetes »Gefühl« der Mitte unterstellt (Beise 2009: 30), eine Vorstellung der Zugehörigkeit zur und Teilhabe an der Gesellschaft als Ganzem – nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Wir wissen aus vielen Umfragen um die Anziehungskraft der Mitte: Bitten Soziologen die Menschen, sich selbst einzuordnen, so zeigen sich immer wieder die Sehnsucht nach einer Positionierung in der Mitte und eine Ablehnung der Extreme. Selbst Personen mit eher niedrigem Einkommen sowie ungelernte Arbeiter rechnen sich dazu, gesellschaftliche Eliten ebenso. In Westdeutschland ließen sich 2006 etwa 60 Prozent der Menschen der »gefühlten Mittelschicht« zuordnen, zehn Prozent der Oberschicht, knapp 30 Prozent der Arbeiterschicht und nur zwei Pro
zent der Unterschicht. In Ostdeutschland, vermutlich auch aufgrund der jahrelangen, zumindest verbalen »Hofierung der Arbeiterklasse«, ist die Zuordnung zur Schicht der Arbeiter noch weitaus verbreiteter: 2006 rechneten sich etwa 46 Prozent der Befragten dieser Gruppe und ein etwa gleich großer Anteil der Mittelschicht zu. 1991 hatten sich noch 57 Prozent der Befragten als der Arbeiterschicht zugehörig erklärt. Lediglich vier von 100 Ostdeutschen rechnen sich subjektiv zur Oberschicht, fünf Prozent verorten sich in der Unterschicht (alle Angaben aus: Statistisches Bundesamt 2008: 178).
Es gibt zwar einen klaren Zusammenhang zwischen der subjektiven Zuordnung und objektiven Variablen wie Bildung, Beruf und Einkommen, allerdings finden sich doch viele Personen, die sich, gemessen an objektiven Kriterien, »falsch« einstufen. Das gilt vor allem für Menschen mit hohen Einkommen, die sich dennoch der Mittelschicht zurechnen (Noll/Weick 2011: 3). Dass die explizite Zuordnung zur Mitte auch als falsche Fraternisierung entlarvt werden kann, musste der britische Premierminister David Cameron im Sommer 2010 erfahren, als er sich und seine Frau bei einer Rede in Manchester zur Mittelschicht rechnete – obwohl er das noble Eliteinternat Eton besucht und in Oxford studiert hatte, trotz seiner Mitgliedschaft in der für ihre wohlhabenden Mitglieder bekannten Studentenverbindung Bullingdon Club und trotz eines geschätzten Vermögens von 30 Millionen Pfund.
Wenn Ökonomen die Mittelschicht vermessen, ist ihr wichtigster Indikator das Einkommen. Das ist vielfach kritisiert worden, weil neben dem Einkommen eben auch berufs- und bildungsbezogene Variablen eine Rolle spielen. Zur Beschreibung einer mittleren Lebenslage (und eines mittleren Lebensstandards) taugt die relative Position in der Einkommenshierarchie freilich allemal. Den Analysen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung ( DIW ) in Berlin liegt in der Regel das »äquivalenzgewichtete Haushaltsnettoeinkommen« zugrunde. Hierbei
wird jeder Person im Haushalt ein Wert zugeordnet, welcher berücksichtigt, dass größere Haushalte vergleichsweise günstiger wirtschaften als kleinere. Diese Werte werden aufaddiert. Das gesamte Haushaltseinkommen wird dann durch die Summe geteilt. Der berechnete Wert ermöglicht die Vergleichbarkeit von Einkommen über verschiedene Haushaltsgrößen und -typen hinweg. Dass auf den Haushalt abgestellt und dann nach der Personenanzahl gewichtet wird, ist eine wichtige Konvention. Eine einzelne Person kann mit einem Jahreseinkommen von 40 000 Euro sehr
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