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Niceville

Niceville

Titel: Niceville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Stroud
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Rainey Teague kommt nicht nach Hause
    Die Polizei von Niceville brauchte nicht einmal eine
Stunde, um die Person zu finden, die den Jungen zuletzt gesehen hatte: Alf
Pennington. Sein Antiquariat lag an der North Gwinnett, nicht weit von der
Kreuzung Kingsbane Walk, auf dem normalen Schulweg des Jungen, der Rainey
Teague hieß.
    Von der Regiopolis School nach Garrison Hills waren es ungefähr
eineinhalb Kilometer, für die der Zehnjährige, der gern ein bisschen trödelte
und sich die Zeit nahm, in sämtliche Schaufenster zu sehen, meist etwa
fünfunddreißig Minuten brauchte.
    Raineys Mutter Sylvia, eine im Grunde vernünftige, wenn auch vom
Kampf gegen den Eierstockkrebs zermürbte Frau, hatte in der Küche des Hauses in
Garrison Hills einen Snack für den Jungen bereitgestellt: ein
Schinken-Käse-Sandwich und Pickles.
    Sie saß an ihrem Computer und forschte in den Tiefen von ancestry.com ,
wobei ein Teil ihrer Aufmerksamkeit der Haustür galt, denn sie wartete wie
jeden Tag darauf, dass Rainey hereingepoltert kam. Hin und wieder warf sie
einen Blick auf die digitale Uhr in der Taskleiste.
    Es war 15 Uhr 24, und sie stellte ihn sich vor, ihren Jungen, ihr
spätes Kind, das sie, nach jahrelangen erfolglosen Versuchen mit künstlicher
Befruchtung, aus dem Waisenhaus in Sallytown geholt und adoptiert hatte.
    Blass und blond, mit großen braunen Augen und schlaksigem Gang – sie
sah ihn, als säße sie in einem Hubschrauber, als wäre Niceville unter ihr
ausgebreitet, von den dunstverhangenen braunen Belfair-Hügeln im Norden bis zum
grünen Band des Tulip, der sich um den Fuß von Tallulah’s Wall wand, breiter wurde,
abermals die Richtung änderte und durch das Zentrum der Stadt floss. Weit
entfernt im Südosten konnte sie eben noch die flachen Küstenmarschen und
dahinter das schimmernde Meer sehen.
    Sie sah ihn in seiner Schuluniform, den blauen Blazer über die Schulter
geworfen, mit offenem Hemdkragen und gelöster Krawatte, mit tief hängendem
Harry-Potter-Rucksack und flatternden Schnürsenkeln: Er kam an den Bahnübergang
zwischen Peachtree und Cemetery Hill – selbstverständlich blickte er in beide
Richtungen –, und jetzt schlenderte er durch die steile Allee an der Felswand
entlang, an deren Fuß der Friedhof für die konföderierten Gefallenen lag.
    Rainey.
    In ein paar Minuten würde er zu Hause sein.
    Ihre langen, zarten Finger huschten über die Tastatur, als spielte sie
Klavier. Das lange schwarze Haar hing über ihre Augen, und sie saß aufgerichtet
und konzentriert da, die Füße sittsam gekreuzt, und kämpfte mit den
Nebenwirkungen des Oxycodon, das sie gegen die Schmerzen eingenommen hatte.
    Auf ancestry.com ging es um Ahnenforschung, und Sylvia hatte die Seite angesteuert, um ein
Familienrätsel zu lösen, das sie seit geraumer Zeit beschäftigte. Im Zuge ihrer
Nachforschungen hatte sie den Eindruck gewonnen, dass die Antwort auf ihre
Fragen irgendetwas mit einem Familientreffen zu tun haben musste, das 1910 auf
Johnny Mullrynes Plantage bei Savannah stattgefunden hatte. Sylvia war entfernt
verwandt mit den Mullrynes, die diese Plantage lange vor dem Bürgerkrieg
gegründet hatten.
    Später sagte sie zu dem Polizisten, der die Anzeige aufnahm, sie
habe sich irgendwie in dieser Ahnenforschung verloren, ihr Zeitgefühl sei ihr
abhandengekommen – eine der Nebenwirkungen des Oxycodon.
    Als sie abermals auf die Uhr sah, diesmal mit leichter Besorgnis,
    war es 15 Uhr 55. Rainey hätte vor zehn Minuten zu Hause sein sollen.
    Sie dachte ein wenig nach, schob den Stuhl zurück, ging durch den
langen Flur zur Haustür mit ihrer Füllung aus Buntglas und dem Rundbogen aus
handgeschnitztem Mahagoni und trat hinaus auf die breite, geflieste Terrasse, eine
hochgewachsene, schlanke Frau in einem makellosen schwarzen Kleid, mit einer
silbernen Halskette und Ballerinas aus rotem Lackleder. Sie verschränkte die
Arme und beugte Kopf und Oberkörper nach links, in der Hoffnung, ihren Sohn auf
der schattigen Eichenallee zu sehen.
    Garrison Hills war eines der schönsten Viertel von Niceville,
umspielt vom warmen Licht alten Geldes, einem Licht, das durch die Wipfel der
Eichen und die grauen Fetzen von Spanischem Moos fiel, das die Rasenflächen
leuchten und die Dächer der alten Villen an dieser Straße schimmern ließ.
    Es war kein Junge zu sehen, der auf dem Bürgersteig dahinschlurfte.
Es war überhaupt niemand zu sehen. So angestrengt sie auch Ausschau hielt – die
Straße blieb leer.
    Lange stand

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